Der König der Haselnüsse

Mit jeder Kurve abwärts nimmt der Duft zu. Es ist, als würde man wie auf dem Jahrmarkt an einer Steilwand immer tiefer in ein Nutellaglas fahren. Denn José Noés Betrieb liegt zu Füßen einiger Hügel. Betrieb ist beinahe ein zu großes Wort: zwei Schuppen, eine überdachte Terrasse für Gäste. »Nocciole« steht auf einem Schild an der Hauswand. Gerade war eine Gruppe von Schweizern da, auf dem Tisch steht noch ein kleiner Snack: Bananenscheiben, mit Haselnusscreme bestrichen. José schiebt den Teller rüber. Köstlich! Das erinnert an den Banana-Split-Geschmack der Achtzigerjahre, und »Comfort Food« ist ja gerade wieder schwer angesagt.

Doch bevor es um die Nuss geht, muss José Noé kurz telefonieren. Er faltet einen Lieferanten zusammen, der eine Bestellung vermasselt hat. Sein piemontesischer Dialekt ist für Italiener, die nicht aus der Region sind, völlig unverständlich und klingt sehr französisch. Womit wir beim Namen wären. Noé stammt unverkennbar von den Cousins von drüben, den cugini d’oltralpe, wie die Franzosen hier heißen, aber José? José zuckt mit den Schultern. »Der Name ist hier sehr beliebt, im Ort gibt es einige, die so heißen.«

Der Ort, das ist Lequia Berria, zwanzig Minuten außerhalb der Trüffelmetropole Alba. Hier herrscht José Noé über 40 Hektar, auf denen so manches wächst, darunter 16.000 Haselnussbäume. Die Bäume gab es schon länger, aber erst vor einigen Jahren kam José Noé auf die Idee, mit den Schätzen auf seinem Grund selbst etwas anzufangen. Vom Fach war er ja, hatte er doch beinahe zwei Jahrzehnte in der Forschungsabteilung von Ferrero gearbeitet, dem größten Arbeitgeber der Region. In Sachen Nuss & Nougat macht ihm niemand was vor, und auf Nutella lässt er auch nichts kommen. Ein Industrieprodukt zwar, aber allen anderen Konkurrenzcremes haushoch überlegen. Irgendwann beschloss José, die Nüsse, die seine Familie stets ungeschält an Großbetriebe wie eben Ferrero weiterverkaufte, selbst zu veredeln.

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José Noé ist ein rauer, bodenständiger Bursche, dichtes Haar, 57 Jahre alt. Hinten im Gemüsegarten werkelt sein Vater. 93 Jahre. Auf einem Traktor. Apropos Ahnen: Auch wenn man immer nur von José Noé spricht, heißt doch die Azienda »Papa dei Boschi«, »Papst der Wälder«. Warum? José hat eine Erklärung: Einer seiner Vorfahren – die Familie lebt seit mindestens zehn Generationen und wahrscheinlich noch länger an einem Fleck – lief stets mit einer papstähnlichen Tiara umher, die er auf einer Pilgerreise nach Rom erstanden hatte und mit der er daraufhin stolz durch die Wälder spazierte, worauf er von den Dorfbewohnern den Spitznamen erhielt, der bis heute blieb.

Klar: Man muss schon ein bisschen verrückt sein, um seine berufliche Zukunft in die Hände einer Haselnuss zu legen, und das liegt offenbar in der Familie. Es war ein Wagnis, zumal Josés Wille zur Perfektion keine Kompromisse zulässt. Schon die Ernte im Juli und August ist extrem arbeitsaufwendig, denn man pflückt nicht direkt vom Baum – der zwischen 8 und 15 Kilogramm Nüsse tragen kann –, sondern wartet auf den freiwilligen Fall. Das klingt bequem, doch man muss wachsam sein wie ein Luchs, denn liegt die Nuss am Boden, muss schnell reagiert werden, weil sie nicht die Feuchtigkeit des Bodens aufnehmen oder gar Schimmel ansetzen soll, was ihr einen muffigen Ton verleihen würde. Dann werden die Haselnüsse nach der Ernte millimetergenau nach Größe sortiert. In der Natur werden sie zwischen 13 und 20 Millimeter groß, aber in einem Sieb werden nur jene zwischen 17 und 20 Millimeter weiterverarbeitet. Sie sollen ja gleichmäßig durchrösten. Alle kleineren Haselnüsse gehen in die Industrie. Dann wird geschält, anschließend unter Infrarot bei 150 Grad für 30 Minuten geröstet. Der Duft, der Duft, ach! Anschließend kühlen die Nüsse ein paar Minuten ab, werden noch einmal von zwei Augenpaaren auf einem Sortierband geprüft und dann flink vakuumverpackt, um das Aroma zu bewahren, welches sich etwa ein halbes Jahr hält. Alle Geräte wurden nach Josés Plänen gebaut – eine Wahnsinnsinvestition für ein Geschäft, das letztlich nicht viel mehr als lausige Cents abwirft. Immerhin: Die Schalen dienen mit ihrem hohen Ölgehalt als hervorragendes Heizmaterial.

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Es duftet nicht nur betörend, sondern auch der Geschmack der Nuss ist unvergesslich: zart, freundlich, unaufdringlich, ganz fern von den typischen Bitteraromen gekaufter Nüsse. Was macht die Piemonteser Haselnuss so besonders? Es ist, wie bei der hier wachsenden Nebbiolo-Traube, das Terroir in Kombination mit dem Klima. Die Haselnuss mag es feucht und nicht allzu heiß, aber auch nicht allzu frostig. Der heftige Sommer 2015 war ein Grenzfall; bloß gut, dass Josés Bäume auf 500 bis 650 Metern Höhe wachsen, was sie vor der schlimmsten Hitze bewahrt. Nebenbei: Das im Deutschen oft benutzte Wort »Haselnussstrauch« ist fast eine Beleidigung. Nein, es sind veritable Bäume, fünf bis sechs Meter hoch.

Die piemontesische Haselnusssorte heißt Tonda gentile, eine geschützte Herkunftsbezeichnung. Gentile bedeutet in diesem Fall nicht »freundlich«, sondern »vornehm« oder »edel« – die »Runde Edle« also. Das Wort gentile hat einen Bedeutungswandel durchgemacht, so wie das deutsche Wort »brav« ja einst »tapfer« hieß (»Der brave Soldat Schwejk«) und nun »lieb«. Liebe ist das Stichwort, denn José Noé behandelt sein Produkt mit ganz besonderer Zuneigung. Einst wurden Haselnussbäume nur 25 Jahre alt, eng an eng gepflanzt. Sie kannibalisierten einander und machten irgendwann schlapp. Er aber gibt ihnen Luft und Platz, so dass sie inzwischen weit über 100 Jahre alt werden und mit ihrem größeren Wurzelwerk umso köstlichere Früchte produzieren. Kein Witz: José kann schmecken, von welchem Hang die Nuss kommt.

Weil José die Haselnuss so sehr schätzt, stellt er nicht allzu viel mit ihr an. Hauptprodukt sind die geschälten und gerösteten Haselnüsse, die im Versand 7,50 Euro pro 200 Gramm kosten. »Zum Wein«, sagt er, »gibt es nichts Besseres.« Außerdem bietet er noch gehackte Haselnüsse an, die er gern über Fleisch streut, die sich aber auch für allerlei dolci eignen. Das Königsprodukt ist die Pasta di nocciole, ein Mus mit exakt einem Inhaltsstoff, nämlich der Haselnuss. Mit ihm kann man alles anstellen, was man will, darunter hervorragendes Eis machen. Außerdem produziert er noch die Crema di Nocciole, die hausgemachte Nougatcreme mit Zucker, Milchpulver, Kakao und Vanille. Nicht so süß wie Nutella, aber mindestens genau so süchtig machend. Übrigens hieß Nutella einst Supercrema, bis Pietro Ferrero 1964 den Namen änderte. Supercrema wäre ein passender Name für José Noés köstliche Rezeptur. Bloß, dass er dafür viel zu bescheiden ist.

Azienda Agricola Papa dei Boschi, Via Pianravero 13, 12050 Lequio Berria, Tel. 0039 0173 52 00 19, Online-Shop: http://www.papadeiboschi.com. Besichtigungen und Verkostungen nach telefonischer Voranmeldung.

Der Text erschien erstmals in der FEINSCHMECKER-Serie »Unsere Helden«.

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