Hier kommt die sinnloseste Reisegeschichte des Jahres. Denn das Lokal »Giannino« hat sich inzwischen verändert. Aber warum sollten wir zulassen, dass sich uns die Wirklichkeit in den Weg wirft? So ging es jedenfalls 2014 dort zu:
Früher war mehr Champagner. »Es gab Abende, da wurden zehn Roederer Cristal geordert«, seufzt Lorenzo Tonetti. »Heute ist es vielleicht eine Flasche pro Monat.« Ja, die Krise, diese ewige Krise in Italien. Doch bevor wir sehen, dass am Ende alles gut wird, vorab eine Warnung: Der bekannteste Geheimtipp Mailands versteckt sich besonders clever vor allzu neugierigen Touristen. Es gibt nämlich zwei Gianninos. Wer Pech hat, landet in der Via Rosolino Pilo in einem ordentlichen, aber unspektakulären ristorante mit Spezialitäten aus den Abruzzen. Schön, wird er sich denken – das ist also der Nabel der norditalienischen Welt?
Nein, ist es natürlich nicht. Denn das echte »Giannino« liegt 800 Meter Luftlinie entfernt in der Via Vittor Pisani, nicht weit vom Hauptbahnhof. 1899 als kleine Weinhandlung des toskanischen Zugereisten Giovanni Bindi gegründet, begann der padrone, Spitzname Giannino, in einer kleinen Küche auch ein paar Dinge zu kochen, vor allem für die Kutscher in der Via Scelia, die auf Kundschaft warteten. Das machte er so gut, dass aus der Weinhandlung mit Küche bald ein Restaurant mit Weinverkauf wurde und schließlich ein Restaurant. Bald kamen die ersten Herren im Zylinder, und nur wenig später war Mailand ohne das »Giannino« kulinarisch nicht mehr denkbar. Nicht einmal zwei Weltkriege konnten den Ruf des Restaurants demolieren; bis in die Achtzigerjahre hinein führte Familie Bindi in der vierten Generation das Restaurant, das erst einen und 1970 sogar zwei Michelin-Sterne erhielt. Nicht nur die größten italienischen Stars, sondern echte Weltstars waren hier zu Gast: Papst Paul IV., Queen Elizabeth II., Charlie Chaplin, Grace Kelly. Prominenz mit Triple-A-Rating, sozusagen.
Dann gingen der Inhaberfamilie die Gene aus, kein Nachfolger war in Sicht, ein paar glücklose Versuche, den alten Glanz wieder aufleben zu lassen, scheiterten. Die Klienten blieben treu, aber so richtig großartig wie damals wollte es nicht mehr werden. Das »Giannino« wurde die letzte Bastion einer aussterbenden Schicht, des noblen urbanen Bürgertums. Doch Mailands städtische Elite, seit Generationen Stammgast, zog nach und nach aus dem Zentrum, genoss lieber die rurale Ruhe an den Oberitalienischen Seen.
Also kaufte der damals gerade 29-jährige Lorenzo Tonetti im Jahr 2005 den Laden mit dem blätternden Ruhm und zog von der Via Sciesa an den jetzigen Standort um. Tonetti hatte als Barkeeper begonnen, danach einen Catering-Betrieb und die Nobel-Disco »Byblos« gegründet. Nun stürzte er sich in das gastronomische Abenteuer, wollte nicht nur das alte »Giannino« wiederaufleben lassen, sondern auch noch, als doppelte Bürde, in anderen Räumlichkeiten. Mailand war skeptisch. Doch der großgewachsene Mann mit dem entschlossenen Blick hatte ein Ass im Ärmel: Er ist bester Freund von Adriano Galliani, jenem kahlköpfigen Strippenzieher des AC Mailand, der selbst dem Clubpräsidenten Silvio Berlusconi jahrelang trotzen konnte. Galliani half seinem jungen Freund mit einer bemerkenswerten Geste: Neuzugänge des ruhmreichen Milan werden von der Vereinsspitze am allerersten Abend stets ins »Giannino« ausgeführt. Das sorgte von Beginn an für einen Paparazzi-Auftrieb, als wäre Anita Ekberg gerade dem römischen Trevi-Brunnen entstiegen. Kakàs Rückkehr von Real Madrid im Jahr 2013 wurde wie die eines Messias zelebriert, Fernsehstationen berichteten stundenlang live. Und als 2014 der Superstar Keisuke Honda verpflichtet wurde, sprach man sogar in den japanischen Nachrichten vom »Giannino«. In den Wochen danach kamen Hunderte Japaner und wollten auch noch exakt das essen, was Honda bestellt hatte (tagliolini al ragù, cotoletta alla milanese), denn selbst die Speisenfolge wurde im dortigen Staatsfernsehen präzise dokumentiert.
Models an der Wand, Fußballer an den Tischen (heute schüchtern)
Was für ein Schub für das altehrwürdige Restaurant! Beinahe aus dem Nichts waren die Goldenen Zeiten wieder da. Und weil Fußballer qua Naturgesetz grundsätzlich mit Models ausgehen, vereint sich hier aufs Wunderbarste, was Mailand eben im Großen und Ganzen ausmacht – Sport und Laufsteg-Spektakel. Aus der aktuellen A-Prominenz speisten zuletzt Justin Timberlake, David und Victoria Beckham sowie Diego Armando Maradona hier. Und obendrauf jeder, wirklich Italiener, den Sie namentlich kennen. Denn italienische Stars lieben die Öffentlichkeit; sie wissen, wie das Spiel funktioniert. Es kann tatsächlich sein, dass am Nebentisch Giorgio Armani mit fünf Stylisten Hof hält, und er würde einen Teufel tun, sich in ein Separee zurückzuziehen. Zwischen all diesen exaltierten Persönlichkeiten sitzen jene stillen, gutaussehenden älteren Herren mit perfekt gebügelten Ehefrauen und Anzügen, die ihr Geld eher im Hintergrund verdienen. Garniert ist das Ganze mit einer Prise TV-Gesichtern, und fertig ist das Gemisch aus VIPs, die man kennt, und VIPs, die man nicht kennt, aber die tatsächlich das Sagen haben. Eine Mailänder Besonderheit: Die Küche des „Giannino“ ist bis nach Mitternacht geöffnet. Dieser Geniestreich sorgt für eine extrabunte Mischung. Von 20 bis 22 Uhr speist das Business-Mailand, danach kommen die Paradiesvögel und Nachteulen aus Film, Fernsehen und der Via Montenapoleone.
Die allergrößten Prinzessinnen von allen sind natürlich die Fußballer. Da wäre etwa der geniale Brasilianer Ronaldinho (Sie erinnern sich? Der mit den Hasenzähnen), der einmal für sich, seinen Bruder und acht weitere Freunde einen Tisch für 21 Uhr bestellte. »Wir warteten und warteten«, erzählt Lorenzo Tonetti. »Schließlich tauchten sie auf. Mit einer Verspätung von zwei Tagen.«
Ein Schwertfisch, kein Thunfisch. Büffet aus den Achtzigerjahren
Also, wir wissen Bescheid: kapriziöse VIPs und so. Aber wir sind immer noch in einem Restaurant, und die Kernfrage muss lauten: Was gibt es zu essen? Die Küche pflegt bewusst keine stellaren Allüren. Beste Ausgangsware muss es sein, doch immer ohne Schnickschnack, das ist die Devise des Chefkochs Silvio Goffi. Die Weine sind ausschließlich italienisch, nur beim Champagner greift man gezwungenermaßen auf die Produkte der Cousins westlich der Alpen zurück. Das Mailänder Risotto wird mit Safranblüten serviert, das cotoletta alla milanese, selbstverständlich vom Kalb, kommt am Knochen, mit dünner Panade und hauchdünnen Kartoffelchips daher. Auch das Ossobuco mit gremolada wird gern geordert. Kein Hexenwerk, aber materia prima, deren Qualität man schmeckt. Und weil die Modewelt ohnehin äußerst figurbetont isst, schlagen sich diätetische Trends sofort in der Küche nieder. »Wir kommen mit dem Thunfisch kaum nach«, lacht Maurizio Majone, der Restaurantmanager. Klar, alle Welt kräht derzeit nach Low Carb, und daher sind die erfolgreichsten Gerichte Thunfisch-Tatar als Vorspeise und Thunfisch-Filet als Hauptspeise. Der hauseigene Patissier (auch das Brot wird übrigens selbstgebacken) hat einen eher ruhigen Job, dabei wäre es eine Schande, nicht seine cannoncini zu kosten, den Blätterteig mit Vanillecreme. Aber erzählen Sie das mal dem Model am Nebentisch, das am nächsten Tag sein erstes Shooting für die Vogue hat.
Hier ist nicht, wie in so vielen Restaurants, der padrone der Star. Im Gegenteil, Lorenzo Tonetti, Maurizio Majone sowie Antonio Fantini, der seit einigen Monaten die Mehrheit am »Giannino« hält, bleiben dezidiert im Hintergrund. Die Mischung ist schon exklusiv und explosiv genug, da braucht es keinen Chef, der divenhaft herumgrantelt. Man muss die Gäste nur aufeinander loslassen, dann wird es schon. Und wer sich beschwert, sollte wissen: Lorenzo boxt seit 20 Jahren, und wenn er durch die Säle geht, wirkt es, als würde eine Sofagarnitur durchs Restaurant geschoben. Auch die vier Säle selbst, die je etwa 50 Gästen Platz geben, fallen nicht durch exaltiertes Design auf: Die hohen Räume sind schlicht-elegant möbliert, mit klassischer Holzbestuhlung und handelsüblichen Vierertischen unter weißen Tischdecken. An den Wänden hängen großformatige Model-Fotos, nur der Milan-Saal ist voller Fußballdevotionalien.
Natürlich, auf Trip Advisor wird das »Giannino« derb verrissen. Wer nur hierher kommt, um einen Salat zu bestellen und einen Blick auf Stars und Minderstars zu erhaschen, der wird von den Bedienungen mit Verachtung bestraft. Und genau jene Salatesser schreien dann virtuell empört auf. Tipp: Geben Sie nichts drauf.
Und falls Sie einen Beitrag leisten wollen, die guten alten Zeiten auf eigene Faust wiederaufleben zu lassen: Die Flasche Roederer Cristal kostet 350 Euro.
Die Geschichte erschien 2014 im »Feinschmecker«. Inzwischen scheint das Restaurant einige finanzielle Stürme abgewettert zu haben. Ob es dort je wieder so wild zugehen wird wie in den goldenen Achtziger- und Neunzigerjahren? Vielleicht liegt es ja nur an uns, die Zeiten wiederaufleben zu lassen!