Manchmal überlegt man sich ja, welches der schönste Tag in seinem bisherigen Leben war. Ein Murmeltiertag, den man immer und immer wieder erleben könnte.
Die Standardantworten sollten in meinem Fall wohl lauten: Hochzeit, Geburt der ersten Tochter, Geburt der zweiten Tochter. Aber lassen wir diesen Gefühlskram mal beiseite, wir sind ja unter uns. Welchen Tag würde man wirklich gern noch einmal erleben?
Die Hochzeit ist es bei mir nicht, wie Filmaufnahmen beweisen, die mich verschwitzt, verstört und kurz vorm Umkippen zeigen. Und die Tage der Geburt meiner Töchter zeichneten sich durch kilometerlanges Ablaufen von verlassenen Krankenhausfluren nachts um drei Uhr aus, durchsetzt von der bitteren Reue, das Rauchen aufgegeben zu haben.
Ich will ganz ehrlich sein: Der schönste Tag meines Lebens hatte mit einem Fußballtor zu tun.
Der Tag begann in Aquileia, dem Festlandsort vor Grado. Mein älterer Schwager war damals noch ein hoffnungsvoller Schiedsrichter, der auf Einsätze in den höchsten Ligen hoffen konnte, und er hatte mit seinen Schiedsrichterfreunden ein großes Fest organisiert. Das war also der Rahmen: zwanzig fußballverständige Kerle, eine üppig gedeckte Tafel und ein strahlend schöner Nachmittag.
Das allein reicht ja schon für einen Top-1000-Platz unter den besten Tagen des Lebens. Jetzt kommt aber mein Auftritt. Ich war spät dran und hatte drei Frauen dabei: meine Frau Laura, eine sehr hübsche Freundin von Laura und meine Schwester. Ich ratterte mit meinem roten Golf Diesel und Braunschweiger Kennzeichen auf den Hof, wo die Schiedsrichter schon am langen Tisch saßen. Das deutsche Kennzeichen sorgte für ordentlich Aufsehen, aber als sich dann drei hübsche Mädchen aus den Sitzen schälten, fielen zwanzig Unterkiefer auf die Teller. Ja, so einen Auftritt kann man durchaus genießen. Wir vier setzten uns unter großem Hallo dazu (ich nehme an, das Hallo galt nicht so sehr mir, aber immerhin), und das Fest nahm Fahrt auf. Damit wurde es ein Top-100-Tag.
Es gab auch ein kleines Fußballturnier. Auf einem Kleinfeld trat man in Dreierteams gegeneinander an. Ich sollte mit meinen beiden Schwägern spielen. Das machte mich zunächst nervös: Noch nie hatte ich mit meiner Familie in einer Mannschaft gespielt, und ich sollte mich also zusammenreißen und keine schlechte Figur machen. Als wir das Feld hinterm Hof zum ersten Match betraten, atmete ich erleichtert durch.
Alles klar. So siegessicher war ich nie mehr in meinem Leben.
Warum? Darum: Diego Armando Maradona trat mit neun Jahren das erste Mal gegen einen echten Ball aus Leder; vorher hatte er in dem Armenviertel, aus dem er stammte, mit Putzlumpen und allerlei anderem minderwertigem kugelähnlichen Material gekickt. Er hob den für ihn völlig neuen, so perfekt runden Lederball mit dem Fuß auf, ließ ihn mit dem Spann hoch und höher springen und wusste sofort: Es ist völlig unmöglich, dass ich den jemals fallen lasse.
Und Stefan Maiwald wusste, als er die winzigen Eishockeytore sah: Es ist völlig unmöglich, dass ich hier einen Ball reinlasse. Jeder hat eben seine Spezialität.
Wir gewannen die Vorrundenspiele mit mir als Torwart/Libero/Linksaußen mühelos zu Null und standen im Finale, zu dem sich die gesamte Feiergesellschaft rund ums Kleinfeld versammelte. Nur Laura blieb lieber mit ihrer Freundin und meiner Schwester am Tisch sitzen und sollte so nicht Zeuge meines Götterfunkens werden, was ich ihr bis heute nicht anders als verübeln kann.
Im Endspiel passierte nämlich Folgendes: Kurz vor Schluss stand es immer noch 0:0, und wir bekamen eine Ecke zugesprochen. Eine Ecke ist bei Dreierteams natürlich sinnlos, und hohe Bälle auf Kleinfeldern sind noch sinnloser, aber ich stand frei und gab meinem älteren Schwager ein Zeichen. Er schlug die Ecke halbhoch rein, und ich setzte zu einem Flugkopfball an, was nach allen Regeln der Logik der Gipfel des Schwachsinns war. Doch ich traf den Ball so, wie ich noch nie zuvor einen Ball getroffen hatte. Er rauschte in Hüfthöhe am Torwart vorbei ins Eck, als ich noch waagerecht in der Luft schwebte, und ich hatte das Gefühl, gar nicht mehr landen zu müssen – ja, plötzlich fliegen zu können. Erst der Jubel meiner Schwäger riss mich zurück aus meiner beglückten Trance. Aber eigentlich hatte ich immer noch das Gefühl, den Boden nicht mehr zu berühren.
Im Laufe des Abends nahm mich immer mal ein wildfremder Italiener in den Arm und stammelte, so ein Tor ja überhaupt noch nie gesehen zu haben, und ich schaffte es jedes Mal, ernsthaft rot zu werden. Seit diesem Tag – und übrigens bis heute – heiße ich bei meinen Schwägern »Bierhoff«.
Und wissen Sie was? Ich trage den Namen mit Stolz.
Damals gab es noch keine Smartphones, aber just auf jenem heiligen Rasen schoss ich dieses Jahr zu Ostern ein Tor. Gegen einen Sechsjährigen, okay. Aber immerhin hier auf Film festgehalten!