Weil mir neulich eine Freundin schrieb, dass sie bei historischen Romanen immer an »Geschichtsunterricht« denke, kommt hier ein Auszug aus meinem aktuellen Buch »Die Toten von Rialto«, erschienen bei dtv. Damit ihr wisst, was euch erwartet. Kein Geschichtsunterricht, versprochen – dafür das pralle Leben in einer der übleren Spelunken Venedigs im Jahr 1571. Wir befinden uns in Quattrodentis berüchtigter Osteria in Cannaregio.
Die dicke Bertha grinste und wedelte mit den Armen, ihre speckigen Muskeln am Trizeps wackelten fröhlich. Die graublauen Schlieren in der Luft teilten sich ziemlich unwillig und schwerfällig, wie draußen der zähe Lagunennebel. Aus dem Dunst kam Quattrodenti mit einem Krug Wein.
»Mehr, mehr!«, rief die dicke Bertha.
»Mehr, mehr!« jubelte die Menge.
Die dicke Bertha hatte ihren fünften Grappa vor sich, dieses grässliche Getränk aus Stielen, Strünken und Schimmel, aus Geflügelschnäbeln, Eselshufen und Entengrütze. Schon nach einem Grappa, hieß es, konnte man blind werden. Die dicke Bertha blinzelte nicht mal. Und stürzte das Getränk in einem Zug hinunter.
Die Anwesenden gerieten aus dem Häuschen.
Die Frage war allerdings, ob ihr zuerst der Grappa ausging oder die Gegnerinnen. Denn wer konnte die dicke Bertha schon schlagen?
Es war in den letzten Wochen zu einer Berühmtheit in der Stadt geworden, das Mädchen aus Tirol, angeblich noch keine sechzehn Jahre alt und als Magd über Innsbruck und Padua nach Venedig gekommen. Und solche Dinge sprachen sich in den übervollen Kanälen der Serenissima ganz schnell herum, rasten durch die Gassen wie ein Feuer, loderten auf wie Pechfackeln und erleuchteten die Zimmer der Dienstmädchen, der Kurtisanen und der nobili. Jeder wollte sie sehen, jeder ihr einmal die Hand schütteln oder übers Haar streicheln. Und dafür eine Backpfeife kassieren, die die Wange anschwellen ließ.
Quattrodenti brachte den guten Wein, und die nächste Frau versuchte sich beim Armdrücken gegen die dicke Bertha. Sie war eine ältliche Hure mit schon reichlich verschmiertem Lippenstift, die sich allerdings eine gewisse Kraft durch fortgesetztes Auspeitschen ihrer noblen Klientel angeeignet hatte. Denn mochte auch die Chance auf einen Sieg gering sein, lohnend war der Wettkampf allemal, inzwischen stand die Quote bei zehn zu eins, und die Wetten wurden immer toller. Doch auch für die Auspeitscherin war es schnell vorbei, und der dicken Bertha wurde von irgendwoher ein sechster Grappa kredenzt.
Die Einzigen, die in Quattrodentis schmutziger Spelunke in der düstersten Gasse der dunkelsten Ecke Cannaregios keinen Blick für die dicke Bertha und ihre ebenso speckigen wie kräftigen Arme hatten, waren die Gäste an jenem Tisch, auf dem Quattrodenti, der Wirt ohne vier Vorderzähne, gerade den Weinkrug abgestellt hatte.
Davide Venier, Miguel de Cervantes und Tintoretto hatten etwas zu feiern – jedenfalls fand Miguel das, denn sehr bald würde die Flotte endlich in See stechen. Es war schon der dritte Weinkrug, was zum großen Teil Tintorettos Verdienst war. Der Maler war wie immer so betrunken, dass er schon fast wieder nüchtern war.
Dann erschien unvermittelt der merkwürdige Francesco Collauto am Tisch. Ein dünnes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht, das stromlinienförmig wirkte und wie ein Schiffsbug spitz zulief. Dahinter verborgen lauerte die Bitte, sich setzen zu dürfen. Die dünnen Haare trug Collauto kurz und kämmte sie mit der Hilfe von Olivenöl streng zurück, was für noch weniger Luftwiderstand sorgte.
»Mein lieber Furetto, was macht Ihr denn hier?«, begrüßte Miguel ihn.
»Oh, ich bin gewissermaßen zufällig hier.« Collauto wartete mit zwei überaus großen oberen Schneidezähnen auf, die seiner ganzen Erscheinung etwas Nagerhaftes verliehen. Alle Welt nannte ihn, auch in seinem Beisein, »Furetto«, Frettchen. Ein Spitzname, der trefflicher die äußere Erscheinung mit den charakterlichen Eigenschaften vereinte, war in ganz Venedig kaum denkbar.
»Trinkt doch etwas mit uns«, forderte Davide ihn auf, obwohl er wusste, dass das Frettchen weder wegen des Alkohols noch wegen des Glücksspiels oder der vagen Aussicht auf Sex hierhergekommen war, denn es hatte keine der üblichen Schwächen. Das Einzige, was es wollte, war Wissen. Und so schnüffelte es Tag und Nacht durch Venedig, schlich sich in Paläste und auf Feste ein, aber auch in die verruchten Ecken der Stadt, in die casini und Bordelle. Die Leute duldeten das. Es war unmöglich, das Frettchen auszusperren, es war so hartnäckig und ungreifbar wie eine Ratte auf dem Dachboden.
Das Frettchen setzte sich also auf einen von Davide herangezogenen Stuhl. »So ist es denn wahr, dass der Krieg bevorsteht und die Spanier dabei sind?«, fragte es mit seiner hohen, heiseren Stimme.
Davide und Miguel lachten beide auf. Ein bevorstehender Krieg war so sicher wie der Sonnenaufgang. Das konnte kaum der Hauptgrund für das Erscheinen des Frettchens sein.
Das Frettchen lächelte entschuldigend. »Nein, Ihr habt recht, ich bin einfach nur hier, weil es mir, nun ja, interessant erscheint. Und weil dies, wie ich glaube, ein neuer Treffpunkt vieler interessanter Leute zu werden pflegt?«
»So? Wer treibt sich denn hier so herum?«
»Nicht zuletzt Ihr, mein lieber Venier. Ihr seid immer noch derjenige, über den überall in Venedig am meisten gesprochen wird.«
»Ist dem so?«
»Wie könnte es anders sein? Vom erfolgreichen Geschäftsmann zum Verräter in den Bleikammern zum engen Freund des Dogen, all das innerhalb weniger Monate. Ihr seid wie ein Theaterstück zum Anfassen.«
»So hoffen wir, dass es eine Komödie und keine Tragödie ist«, lachte Miguel, der, wie man merkte, seinen Aristoteles sorgsam studiert hatte.
»Nun erzählt schon, was Ihr hier macht. Der Krieg kann es nicht sein. Was ist es wirklich?«
»Oh, so einiges. Zum einen hört man von Edelleuten, die in wachsender Zahl hierherkommen, da gehört es ja zu meiner Pflicht, mich auf dem Laufenden zu halten.« Das Frettchen blickte sich um. Davide folgte seinen Augenbewegungen und erkannte, dass sich einige nobili regelrecht vor den Blicken des Chronisten wegduckten. Man konnte es nicht anders sagen: Francesco hatte eine gewisse Macht. Und: Er genoss es sichtlich, mehr zu wissen als alle anderen.
Seit vielen Jahren kümmerte er sich um die quaderni manoscritti, die der Große Rat damals eingeführt hatte. In diesen Schriften wurden einmal pro Vierteljahr alle Neuigkeiten zusammengefasst, die für Venedig wichtig waren; sie wurden an alle politisch Interessierten kostenlos verteilt sowie in Aushängen bekannt gemacht.
»Für einen Mann eurer Klugheit bleibt ihr erstaunlich vage«, meinte Davide.
»Nein, natürlich geht es um die Auswirkungen all jener Geschehnisse auf den Handel, der nun einmal das Rückgrat unserer fragilen Republik bildet.«
»Ja, man hört, dass die Gewürzpreise anziehen, dass das aber kein gutes Omen sei«, nickte Davide. Denn er war überzeugt: Bei jemandem, der alles wusste, war es die beste Taktik, ebenfalls ganz offen zu sein – oder wenigstens so zu tun –, um gar nicht erst Misstrauen zu erregen.
»Ja, davon erfuhr auch ich. Es sind die Genueser, nicht wahr?«, fragte Miguel, während der schweigsame Tintoretto eine weitere Karaffe Wein orderte, denn der zuvor gebrachte Krug schien ein Loch im Boden gehabt zu haben.
»Wenn wir das wüssten …«, flüsterte das Frettchen.
Derweil zerquetschte die dicke Bertha ihre nächste Konkurrentin. Die Gäste der Taverne jubelten auf, und auch das Frettchen blickte nun auf, sichtlich interessiert an dem, was hier passierte.
»Also sagt: Was genau wollt ihr hier?«, insistierte Davide.
»Es ist immer wieder dienlich, in diesen Etablissements nach Neuigkeiten zu hören, denn vieles, was noch geheim bleiben soll, wird hier geflüstert und nicht auf dem Markusplatz herausposaunt«, stellte das Frettchen beinahe feierlich fest.
»Und der Alkohol lockert die Zunge«, lächelte Davide.
»Und du, der nüchtern bleibt, hörst so manches, nicht wahr?«, dröhnte Miguel.
Das Frettchen nickte ernst und rieb sich das Kinn, welches praktisch nicht vorhanden war, denn die Unterlippe ging nahtlos in den Halsbereich über.
»Aber nun, wollt Ihr zu meinem Abschied nicht doch einmal ein Glas nehmen?«, fragte der Spanier.
Das Frettchen schüttelte den Kopf.
»Nun erweist mir doch die Ehre, denn schließlich verteidige ich zuallererst die Serenissima und damit nicht zuletzt unseren Handel.«
Das Frettchen schüttelte noch einmal den Kopf, aber dieses Mal etwas zögerlicher. Denn Miguel konnte man nur schwerlich eine Bitte abschlagen.
Also brachte man dem Frettchen ein Glas, und Tintoretto sorgte für das Einschenken nach seinem Maßstab, der nur randvoll kannte.
Denn Miguel, in dieser überschwänglichen Laune, wie sie ablegenden Seeleuten und Soldaten zu eigen ist, hatte noch Großes mit dem Frettchen vor. Heute, so hatte der Spanier beschlossen, war es fällig.
»Frauen, die gegeneinander antreten, das ist doch furchtbar!«, befand das Frettchen. Der Satz war ein großer Fehler. Denn er brachte Miguel auf eine Idee.
»Nun, dann tretet ihr doch gegen sie an und macht dem Spuk ein Ende!«, forderte er den venezianischen Chronisten auf.
»Selbstverständlich werde ich das nicht tun. Und selbstverständlich würde ich niemals gegen eine Frau verlieren«, röchelte er, und seine Stimme klang ein wenig heiserer als sonst.
Den letzten Satz hörten einige der Umstehenden, und so entstand eine eigenartige Dynamik, von der am Ende des Abends keiner mehr wusste, wie sie sich eigentlich entwickelt hatte, außer vielleicht Miguel. Denn irgendjemand hatte den neugierigen Blick des Frettchens aufgefangen, irgendjemand hatte auf Francesco gezeigt, und irgendwann war es schlicht zu spät gewesen, sich dagegen zu wehren.
Jedenfalls wurde das Frettchen gegen die dicke Bertha aufgehetzt und unter allgemeinem Gejohle nach vorn gezerrt. Einen gröberen Streich konnte man ihm kaum spielen, denn Francesco Collauto nahm nur als Beobachter am gesellschaftlichen Leben teil, niemals als Akteur. Er legte allerhöchsten Wert auf Diskretion; nie war jemand bei ihm daheim gewesen, er gab keine Feste, nicht einmal ein Abendessen. Ihn auf eine solche Art ins Rampenlicht zu ziehen, war ein unerhörter Affront und daher umso komischer.
Das Frettchen schlich dahin wie zu seiner Kreuzigung. Es machte rein körperlich wenig her, was auf der Empore umso deutlicher wurde: Es war von durchschnittlichem Wuchs und trug einen ungeschickt fallenden, schief geschnittenen Tabarro, der ihm trotz seines Alters – es war nicht älter als vierzig – etwas Buckliges, Zerbrechliches verlieh. Neben der dicken Bertha sah Francesco Colautto aus wie ein wurmstichiger Sack Mehl.
Die dicke Bertha dagegen freute sich über ihren neuen mutmaßlichen Herausforderer und feuerte die Menge mit rudernden Armen an. Ein Vergleich Mann gegen Frau, das war etwas Unglaubliches, ja geradezu Gotteslästerliches, und gerade deswegen so erregend.
Davide, Miguel und Tintoretto waren das Frettchen zwar losgeworden, beobachten nun aber gebannt, was geschehen würde.
Der Chronist streifte seinen Tabarro ab, und von irgendwoher tauchte ein Schiedsrichter auf, den bei den Kämpfen zuvor niemand wahrgenommen hatte. Er instruierte die Kombattanten, rückte ihre Arme zurecht, und schon bei dem bloßen Anblick dieser beiden Extremitäten war allen klar, dass dieses Ende kein gutes werden würde. Der zahnstocherhafte Oberarm des Frettchens gegen das üppige Fleisch- und Fettkonzentrat der Tirolerin: Sollte hier das Unvorstellbare passieren, nämlich der Sieg einer Frau – eines Mädchens! – gegen einen Mann?
Die ersten Momente hielt sich der Chronist tapfer. Der Schweiß auf der Stirn vermischte sich mit dem Olivenöl in seinem Haar. Aber er hatte keine Chance. Der erbärmlich dünne Arm leistete bald nur wenig Widerstand und wurde dann mit einem bitteren Klatschen auf den Eichentisch niedergedrückt.
Was für eine Schmach! Welch Demütigung! Das Frettchen war nicht nur körperlich, sondern auch moralisch demoliert; im Jubeln der Menge dachte er an Suizid. Alles, was er hatte vermeiden wollen, war eingetreten – nicht nur eine Bloßstellung in der Öffentlichkeit, sondern auch noch die Niederlage gegen eine Frau, was einer Kastration gleichkam. Wie konnte er sich nun am schnellsten umbringen? In einen Kanal stürzen? Aus einem Fenster hinaus? Sich ein Stilett durch die Rippen bohren? Ach, ach.
In Wirklichkeit aber nahm niemand etwas wahr. Die Unscheinbarkeit, hinter der sich das Frettchen verbarg, kam ihm nun zugute. Seine Niederlage war eine so flüchtige Sache wie die Alkoholschwaden in der Luft; am morgigen Tag würde sich keiner mehr daran erinnern. Doch das war dem Frettchen noch nicht klar. Wie ein schwer verwundeter Söldner sank es an Davides Tisch zurück in seinen Schemel und sah hundeelend aus..
Miguel grinste Francesco an, doch selbst in diesem Mikrokosmos war das Thema längst ein anderes.
»Wo mag das entscheidende Zusammentreffen mit den Osmanen stattfinden?«, fragte Tintoretto.
»Man hört, osmanische Galeerenverbände stünden vor Ancona, und wir können sie in wenigen Tagen erreichen und zerschmettern«, gab Miguel zurück.
»Unwahrscheinlich, dass sie sich so weit vorgewagt haben«, meinte Davide. »In fremden Gewässern wären sie zu sehr benachteiligt, dazu noch in der tückischen Adria mit ihren unberechenbaren Winden, die doch eindeutig den venezianischen Seeleuten zupass kommen.«
Das Frettchen, das in seinem Selbstmitleid Zuspruch gesucht hatte, blickte verwirrt von einem zum anderen. Warum kümmerte sich keiner um ihn?
»Sic transit gloria mundi«, seufzte der Chronist zu sich selbst. Tintoretto schenkte ihm ein Glas nach, und alle stießen an. Heute sollte das Frettchen wohl nicht mehr auf zwei Beinen nach Hause kommen.
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Das Bild ist zum Beitrag ist von Wilhelm Marstrand und heißt »Osteria Romana«.