Lest hier mal rein

Historische Romane drehen sich nicht um tapfere Rittersleute und schmachtende Burgfräulein. Wer wissen will, was ihn beim »Spion des Dogen« erwartet: Hier kommt ein Auszug des elften Kapitels, in dem wir mit der Hauptperson Davide Venier eine ziemlich üble Kneipe in Cannaregio aufsuchen.

Kapitel 11: Die Spelunke

Der Türsteher war ein Gigant, sechs Fuß und fünf Zoll groß, mindestens. Sein vernarbtes Gesicht sah aus, als hätte man ihn mehrfach kielgeholt. Eine tiefe Narbe, die sich vom Kinn bis zum Hals zog, trug er als stolzes Andenken an eine messerbewehrte Auseinandersetzung. Seine Zähne sahen aus, als würde er damit eisenbeschlagene Bootsplanken kauen. Er hatte Hände groß wie Bratpfannen und trug sie seltener zur Begrüßung bereit denn zur Faust geballt. Unter seinem abgenutzten Tabarro, der von seinem gewaltigen Kreuz hing, waren allerlei Stichwaffen verborgen und manchmal auch eine Pistole.

Jetzt, in der beginnenden Dunkelheit, sah er, wenn diese Steigerung überhaupt möglich war, noch ein wenig gefährlicher aus. Die Gassen im Norden von Cannaregio waren ein übles Gebiet. Hier, mit Blick auf die Lagune und die terraferma, herrschte das Recht der Straße. Die Tunichtgute, die Bettler, die Tagelöhner: Hier trafen sie sich, hier war ihr Venedig. Schon der Geruch war anders als im Rest der Stadt, fauliger Schlamm moderte in den Gassen, die Fenster der Häuser waren mit Fetzen abgedichtet; Lärm, Streit und Kindergeschrei drangen aus den engen Wohnungen, der kühle Nordostwind fuhr ungebremst in Türen und Ritzen.

Als der Türsteher Davide sah, richtete er sich zu seiner ganzen, furchterregenden Größe auf und hob den rechten Arm. »Venier!« rief er erfreut. Seine Pranke krachte auf Davides Schulter. Sie umarmten einander herzlich. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Davide vor einem Richter zu Gunsten des Giganten ausgesagt und ihm eine lange Haftstrafe erspart. Den richtigen Namen des Raubeins kannten wenige, er hieß in ganz Venedig nur »der Friulaner«. Er war dazwischen gegangen, als ein honoriges Ratsmitglied auf offener Straße seine Geliebte verprügelt hatte. Und wenn sich der Friulaner einmischte, ging es nicht ohne Kollateralschäden ab: Das Ratsmitglied trug seitdem den Arm in der Schlinge und lispelte ein wenig. Davide hatte bestätigt, dass das Ratsmitglied sich überaus unwürdig, bösartig und regelrecht verabscheuungswürdig verhalten hatte und dass der Friulaner nur seine Pflicht als guter Christenmensch getan habe, dabei vielleicht aufgrund seiner körperlichen Stärke unabsichtlich etwas überhart zur Sache gegangen sei. Der Gigant würde das nie vergessen.

Der Friulaner stieß die Tür auf, die er bewachte, und Davide war inmitten jener Schicht gelandet, denen der Tod des Dogen und überhaupt jede politische Frage, die rund um den Markusplatz entschieden wurde, herzlich egal war: den Aussätzigen, Arbeitslosen, jenen, die nicht dazugehörten, jenen, deren Namen nicht im Goldenen Buch der Stadt standen. Ein extrem schmaler Gang führte weiter ins Innere, links und rechts standen übertrieben geschminkte Prostituierte, die Davide berührten, festhielten, sich ihm in den Weg stellten. Der Gang mündete in einen von ranzigem Öl dunkelgelb beleuchteten, überraschend großen Raum mit einer Handvoll Tischen und einer Theke. Es roch nach nasser Kleidung, verschüttetem Wein und Urin. Ein Musiker spielte auf einer Bratsche das venezianische Volkslied Monta in Gondola, Steig ein in die Gondel, dazu sangen ein paar Euphoriker herrlich schräg und voller Lust mit. Mitten im Raum stand eine größere Gruppe im Kreis; es wurde geflucht, geschrien und angefeuert. Zier dich nicht, steig ein. In einer Ecke lag ein Betrunkener, ein anderer, nicht weniger angeschlagen, versuchte, ihn aufzurichten. Direkt daneben stritt sich eine Hure mit einem Freier, es ging um die genauen Zahlungsmodalitäten für einen bestimmten, oral zu verrichtenden Gefallen. Rechts im Raum, hinter der Theke, werkelte Besitzer Claudio, genannt Quattrodenti. Der Mann mit Halbglatze, Vollbart und Spitzbauch hatte längst seinen Traum von einer kleinen, feinen Gaststätte ad acta gelegt und schenkte billigen Wein aus großen Amphoren aus, dazu gab es überteuerte Schinkenscheiben. Seine Lederschürze hingegen glänzte auch im schlimmsten Chaos immer makellos; diesen letzten Rest gastronomischer Würde hatte er sich bewahrt. Er hatte von den hohen Herren geträumt, nun waren es die Armen und Irren, die bei ihm Zuflucht suchten. Lass mich nicht warten, ich sitze schon in der Gondel. Immerhin: Venedig war so reich, dass selbst die Geringverdiener noch ordentlich verdienten und sich ihren Wein fast immer leisten konnten. Geschäftstüchtig, wie der Wirt war, machte er das Beste draus und veranstaltete Zock- und Themenabende. Heute Abend war große Armdrück-Nacht. Jeder konnte daran teilnehmen; dem Sieger winkten zwei Dukaten, und kürzlich hatte Claudio sogar eine Damenwertung (eine Dukate) eingeführt. Das wiederum hatte sich so schnell herumgesprochen, dass sich auch einige hohe Herren inkognito dieses Spektakel nicht entgehen lassen wollen – und so konnte Quattrodenti auf Umwegen dann doch einige der angesehensten Angehörigen des republikanischen Geldadels bewirten, die sich auf den Nervenkitzel der Unterschichtenvergnügen einlassen wollten und sogar klaglos den sauren Wein tranken, der für sie nach Abenteuer schmeckte. Außerdem engagierte er ausländische Musiker, die in einem der großen Ospedali lehrten, wie hier die Musikschulen hießen, und die sich zu gern ein kleines Zugeld verdienten. Auch wenn das bedeutete, die eine oder andere Pöbelei über sich ergehen zu lassen oder die Geige von Bierflecken zu reinigen.

Quattrodenti hieß der Wirt übrigens, weil ihm vier Vorderzähne fehlten. Eines Tages stand er einfach hinter dem Tresen, als wäre nichts gewesen. Bloß dass beim Brüllen oder beim Lachen (Letzteres passierte seltener) in seinem Mund ein schwarzes Loch klaffte. Niemand wusste, was passiert war, er selbst winkte mürrisch ab, wenn ihn jemand fragte, wer oder was um alles in der Welt ihn denn so zugerichtet habe. Claudio behandelte seine plötzliche, gewaltige Zahnlücke mit einer demonstrativen Nonchalance, als wäre es ein lästiger Pickel auf der Wange, der schon von selbst wieder verschwinden würde. Über den neuen Spitznamen hatte er sich lange geärgert, doch inzwischen hatte er gemerkt, dass er sich gar nicht schlecht vermarkten ließ. Seine Spelunke hieß ihn Venedig nicht mehr Da Claudio (davon gab es nämlich ohnehin ein halbes Dutzend in der Stadt, was, wie der vorderzahnlose Claudio fand, aus werblichen Gründen nicht ideal war), sondern längst Da Quattrodenti.

Davide drängelte sich zur Theke durch.

»Quattrodenti, ein Glas Wein. Aber von dem guten Zeug unter der Theke. Nicht das Zuckerwasser aus den Amphoren.«

»Oh, Herr Davide Venier! So hoher Besuch in meiner bescheidenen Hütte?«

»Ich wollte mal wieder nach dem Rechten sehen. Was gibt’s Neues?«

»Und bei euch? Was war denn das für ein komisches Abenteuer in den Bleikammern der hohen Herren? Ganz Venedig spricht davon. Man glaubte, ihr seid für immer…«

»Nun, jetzt bin ich hier.«

»Und in bester Gesundheit, wie mir scheint! Mein Kompliment.«

»Also, was ist hier passiert, während ich zu Unrecht nichtstuend herumsaß?«

»Nicht viel, nicht viel. Schlechte Geschäfte, immer mehr Pöbel…«

»Ich dachte, du hättest den lukrativsten Ausschank der Stadt?«

»Ach, die lassen doch alle anschreiben. Außerdem habe ich reichlich Kosten! Der Musiker, der Türsteher – die wollen alle mein sauer verdientes Geld! Die Huren wollen gar alles umsonst haben, weil sie sagen, dass sie es ja sind, die die Gäste anlocken.«

»Mir kommen die Tränen.« Davide schnupperte am Wein, den ihm Quattrodenti hingeschoben hatte. Er war in Ordnung. Davide zahlte und ging zu dem lärmenden Kreis in der Mitte. An einem Tisch saßen zwei Männer mit freiem Oberkörper, die Hände ineinander verschränkt und mit verzerrten Gesichtern. Es war schon das Finale im Armdrücken, der Tisch war ganz dunkel vom Schweiß der Wettkämpfer. Die ersten Finals hatte stets der Friulaner gewonnen, doch irgendwann wollte keiner mehr gegen ihn antreten, also verbot Quattrodenti ihm die Teilnahme, um nicht sein Geschäft zu schädigen.

***

Im weiteren Verlauf des Kapitels erfährt Davide wichtige Details über den größten Spieler der Stadt und wird mit einem Stilett angegriffen – ein ganz gewöhnlicher, gemütlicher Abend bei Quattrodenti. Wer Lust auf mehr bekommen hat: Das Buch gibt es hier. Und natürlich in jeder Buchhandlung.

Pressestimmen zum »Spion des Dogen« gibt es hier.

Die Fortsetzung heißt »Der Knochenraub von San Marco«, mehr dazu hier.