Der größte Zocker aller Zeiten

»Sein Blick konnte alles und jeden durchbohren«, erinnerte sich Byron Nelson. Alvin Clarence Thomas, genannt »Titanic«, war eine Legende. Der berühmteste Zocker aller Zeiten. Unschlagbar beim Pokern, Würfeln, Billard – und vor allem auf dem Golfplatz. »Er war der kreativste Spieler, den ich je sah«, sagte Ben Hogan über ihn.

Alvin wurde im Jahr 1892 im tiefsten Arkansas geboren. Seine Kindheit war zum Vergessen: Der Vater verließ die Familie, als Alvin noch ein Säugling war. Mutter und Kind kamen auf einer Schweinefarm unter; die beiden lebten mit dem Stiefvater und Stiefgeschwistern in einer winzigen Blockhütte. Doch Alvin fand sein Refugium. Irgendwoher hatte er ein altes Kartenspiel aufgetrieben, und damit setzte er sich vors Haus und übte. Stundenlang. Tagelang. Wochenlang.

Nach einigen Monaten hatte er eine Menge Tricks drauf – wie man nicht die oberste, sondern die zweitobere Karte austeilt. Wie man einen Stapel mischt, ohne die Position der Karten zu verändern. Wie man sich die unterste Karte zuschanzt. Wie man die Karten markiert (ein leichtes Anritzen oder, noch subtiler, ein vorsichtiges Biegen der oberen rechten Ecke, so dass in der Hand des Gegenübers das Licht anders reflektiert wird.) Auch das Kartenwerfen übte er. Bald konnte er die Karten eines ganzen Sets hintereinander ohne Fehlversuch in einen fünf Meter entfernten Eimer werfen.

Als nächstes nahm er sich das Würfeln vor. Bei Craps, dem uramerikanischen Spiel, geht es darum, mit zwei Würfeln auf eine bestimmte Summe zu kommen – im ersten Versuch idealerweise auf eine 7 oder eine 11. Alvin brachte sich einen Wurf mit steifem Handgelenk bei, der ihm einen ganz leichten statistischen Vorteil verschaffte.

Mit 16 verließ er die Schweinefarm, ohne jegliche Schulbildung. Zunächst zog er von Kleinstadt zu Kleinstadt – ein schlaksiger junger Mann, in jedem verrauchten Hinterzimmer der jüngste, der höflich und zurückhaltend war, nichts trank und jeden mit »Sir« anredete. Ein harmloser Bursche. Als man merkte, dass er Partie um Partie gewann, war es schon zu spät.

Binnen Monaten war er ein sehr, sehr reicher Mann, obwohl er kaum mehr als seinen eigenen Namen schreiben konnte. Er stieg in den teuersten Hotels ab und konnte sich sogar ein Auto leisten.

Schon früh kam Alvin zu seinem Spitznamen Titanic. Die üblichen Kleinstadtzocker trafen sich um das Jahr 1912 in Billardsalons. Und der Junge hatte eine todsichere Wette, die ihm überall 100 Dollar einbrachte – das Dreifache eines durchschnittlichen Monatsgehalts. Alvin wettete, er könne in Längsrichtung über einen Billardtisch springen, ohne diesen zu berühren. Das nahm ihm niemand ab, aber Titanic hatte eine Kopf-voran-Technik entwickelt und rollte auf der anderen Seite ab. »Ich hatte Beine wie ein Frosch«, erinnerte er sich später. Eines Tages, als sich gerade die Nachricht vom Untergang der Titanic im Land verbreitete, hatte Alvin einen seiner üblichen großen Tage und im Billardsalon diverse Wetten gewonnen. Eines einer Opfer fragte in die Runde: »Wie heißt der Bursche eigentlich?« »Er sollte Titanic heißen!«, rief einer der Anwesenden. »Er versenkt hier jeden.«

Und warum aus seinem Nachnamen »Thompson« statt Thomas wurde, hat mit seiner Poker-Leidenschaft zu tun, die ihn in die großen Städte führte: Philadelphia, Chicago, New York. Seine Tricks, um beim Pokern den Gegner zu durchschauen, folgten nicht den üblichen Indizien wie Augenbewegung, Atmung, Wangenrötung oder die Art, wie man die Karten sortiert. Er fand etwas anderes heraus: Fast alle Spieler blähen ihre Nasenflügel ein klein wenig auf, wenn sie ein hervorragendes Blatt erblicken. Es ist nur ein leichtes Zucken, aber das reichte Titanic. Und wenn es mal nicht reichte, hatte er ja noch allerlei Misch- und Markiertricks auf Lager.

Er war einer von sieben Teilnehmern der »Partie des Jahrhunderts«. Arnold »The Brain« Rothstein, ein Gangsterboss aus New York und besessener Spieler, sollte beim Pokern um viel Geld gebracht werden. Die Partie dauerte 24 Stunden, und am Ende schuldete Rothstein Titanic und den anderen Spielern 320.000 Dollar – nach heutigem Gegenwert mehr als 4 Millionen Dollar. Rothstein glaubte, übers Ohr gehauen worden zu sein (er hatte recht), konnte seinen Gegnern aber nichts nachweisen. Er zögerte die Zahlungen immer weiter hinaus, bis es dem rabiaten irischen Geldeintreiber George »Der Bucklige« McManus zu bunt wurde. Mit zwei Kumpanen stellte er Rothstein in einem Hotelzimmer, jemand zückte eine Waffe, ein Schuss fiel. Rothstein wurde im Unterleib getroffen und starb einen Tag später, am 4. November 1928. Aus der »Partie des Jahrhunderts« wurde das »Verbrechen des Jahrhunderts«. In dem Prozess, der mit einem Freispruch für McManus endete, sagte Titanic als Zeuge aus, und fälschlicherweise übermittelte eine Agentur den Namen »Alvin Thompson« statt Alvin Thomas. Fortan hieß er also überall Titanic Thompson.

Titanic kehrte nie mehr nach New York zurück. Ein paar Monate lang zockte er noch mit Al Capone in Chicago – ein lebensgefährlicher Zeitvertreib, denn Capone brachte Leute mit der gleichen Nonchalance um, mit der er seine bonbonfarbenen Seidenhemden wechselte. Titanic wurde mehrmals überfallen. Jedes Mal wehrte er sich mit seinem 45er-Revolver. Die Zeiten waren rau, Kriminelle lauerten überall. Vor allem auf jemanden, der ständig Zehntausende von Dollar bar mit sich herumtrug. Mindestens vier, wahrscheinlich fünf oder mehr Menschen mussten sterben (bei größeren Schießereien mit mehreren Beteiligten ließ sich damals nicht nachweisen, wer wen getroffen hatte), doch verurteilt wurde er nie – er plädierte immer erfolgreich auf Notwehr, und vier seiner Opfer waren Schwerstkriminelle, zu deren Tötung ihm die Polizei sogar gratulierte.

Mit 19 sah Titanic seinen ersten Golfplatz. Er war neugierig, griff zu einem Driver und schlug den ersten Ball auf Anhieb 260 Yards carry; auf dem knochentrockenen Boden rollte der Ball sogar bis zum 300-Yard-Schild aus, also etwa 270 Meter. »Wo haben Sie das gelernt?«, fragte der staunende Pro. »Eben gerade«, antwortete Titanic. Und schon am nächsten Tag standen seine Zockerfreunde neben ihm auf der Range. Titanic wettete um 3000 Dollar, dass er den Ball erneut 300 Yards schlagen würde. Doch in der Nacht hatte es geregnet, der Boden war aufgeweicht – er schaffte es nicht. Seine erste Golfwette also verlor er. Es war so ziemlich die letzte Wette, die er auf einem Golfplatz verlieren sollte. Ein Jahr später konnte er links- wie rechtsherum unter Par spielen. Er übte den Schwung wie einst das Kartenspielen stunden-, tage-, wochenlang, vor allem Putts und Chips. »Ich fand schnell heraus, dass die meisten Wetten rund ums Grün abgeschlossen wurden.« Seine fantastischen Hände machten ihn schnell zu einem großartigen Spieler. »Er hätte problemlos auf der PGA Tour antreten können«, sagte US Open-Champion Tommy Bolt. »Er hatte einen kompakten, wiederholbaren Schwung, typisch Zocker.« Aber warum hätte er das tun sollen? Damals konnte man mit Profigolf nicht reich werden. Mit Zocken dagegen schon.

Er wettete mit Ben Hogan, Byron Nelson und sogar mit dem gutmütigen Harvey Penick. Ob links- oder rechtshändig, er konnte alle schlagen. Sein beliebtester Trick ging so: Er fuhr zu einem Club und forderte den dortigen Pro zu einem Wettspiel heraus, 10 Dollar pro Loch. Der Pro gewann locker, denn Titanic spielte schlecht. Am Ende der Runde bat Titanic um eine Revanche am nächsten Tag, aber diesmal um richtige Summen – 100 oder gar 1000 Dollar pro Loch. Der Pro willigte ein, glaubte an leicht verdientes Geld und gab dem armen Hacker sogar noch Schläge vor. Oft kam es zu Nebenwetten mit den Clubmitgliedern, die von dem seltsamen Fremden mit dem vielen Geld und dem gewaltigen Slice gehört hatten. Am nächsten Tag spielte Titanic sein bestes Golf – beziehungsweise gerade so gut, um all square zur 18 zu kommen, wo er noch einmal eine Verdopplung anbot. Dann fuhr er mit einem dicker gewordenen Geldbündel in der Tasche zum nächsten Club.

Auch im Team war Titanic unschlagbar. Lee Elder, der erste Schwarze, der beim Masters antreten sollte, mimte einige Monate seinen Caddie. Ein perfekter Trick. »Ich wette, du kannst nicht mal gegen meinen Caddie gewinnen«, reizte er die weißen Country-Club-Schnösel, nachdem er sie geschlagen hatte – es war lange vor der Zeit, als es Schwarzen überhaupt gestattet war, die meisten Plätze der USA in einer Funktion zu betreten, die über Caddie, Greenkeeper oder Gärtner hinausging. Selbst wer die Falle ahnte, konnte die Wette kaum ablehnen, würde er doch sein Gesicht verlieren.

Tour-Pro Herman Keiser zog noch im Herbst 1945 inkognito mit Titanic von Club zu Club, 1946 gewann er das Masters. Keiser sollte das Zocken mit Titanic später bereuen. Es habe nicht zu seinem Selbstverständnis als Professional gepasst, sagte er. Andererseits: Wer einen Zock mit Titanic übersteht, ohne das Zittern auf den Grüns zu kriegen, für den ist ein Turnier auf der PGA Tour ein Kinderspiel.

Einmal wurde der junge Byron Nelson von reichen Zockern gebeten, gegen Titanic Thompson anzutreten. »Nein danke, ich spiele nicht um Geld«, antwortete der kreuzbrave Nelson. »Du sollst auch nur Golf spielen. Das Zocken übernehmen wir, mach dir keine Gedanken«, antworteten die Männer im Hintergrund. Nelson ließ sich auf den Deal ein und spielte eine 69 gegen Titanics 71. »Ich hatte gut gespielt und war sehr zufrieden mit mir«, erzählte Nelson. »Hinterher stellte sich heraus, dass Titanic drei Schläge vor bekommen hatte. Er hatte mich also um einen Schlag besiegt.«

Was die Cowboys des späten 19. Jahrhunderts, waren die Zocker, die von Stadt zu Stadt zogen, im frühen 20. Jahrhundert: ein amerikanischer Mythos. Stoff für Heldensagen. Das Ende von Titanic und seinen legendären Gambler-Freunden wie Minnesota Fats und Nick dem Griechen kam mit der Gründung von Las Vegas und anderer Glücksspiel-Resorts. Das Zocken wurde unter strenge staatliche Aufsicht gestellt, versteuert und überwacht. Das Herumreisen hatte ein Ende. Jetzt hatten Anzugträger das Sagen, und Schummeln war praktisch ausgeschlossen. Auch sprach sich die Geschichte von Titanic Thompson, der nie eine Wette verlor, immer mehr herum. Nach vierzig Jahren im Geschäft war fast die ganze USA verbrannte Erde für den genialen Zocker aus Arkansas.

Kein Spieler stirbt reich. Und jeder Spieler glaubt natürlich, er sei die Ausnahme von der Regel. Titanic hätte reich sterben können, aber auch er fand eine Leidenschaft, die ihm das Genick brach: Pferderennen. Nur Idioten setzen auf Pferde, sagt ein US-Sprichwort, aber Titanic konnte nicht widerstehen. Einmal verlor er eine Million Dollar auf einen Schlag, weil das Pferd, auf das er gesetzt hatte und das in Führung lag, kurz vor dem Zieleinlauf ins Straucheln geriet und stürzte. Fünf Ehen taten ein Übriges, um ihn in den finanziellen Ruin zu treiben.

Dem Golf blieb er treu. Es wurmte ihn, dass er irgendwann nicht mehr unter Par spielen konnte, aber er wettete noch bis kurz vor seinem Tod 1974, dass er immer unter 80 Schlägen bleiben könne. Titanic bekam gerade noch mit, dass Pokern gesellschaftsfähig und zur besten Sendezeit live im Fernsehen übertragen wurde. Bei der Gründung der World Series of Poker war der alte Herr Ehrengast. Mitspielen wollte er nicht mehr. Er wusste, dass seine Ära zu Ende gegangen war.

 

Titanics beste Wetten  

  1. Er wettete, dass er eine Erdnuss quer über eine sechsspurige Straße werfen könne.

Der Trick: Er hatte die Erdnuss vorher mit Blei gefüllt. Zocker, die von dem Blei-Trick gehört hatten, drückten ihm eine selbst mitgebrachte Nuss in die Hand. Kein Problem für Titanics flinke Hände: Er tauschte sie kurz vor dem Wurf gegen eine präparierte Nuss aus.

  1. Er wettete, dass er in Längsrichtung über einen Billardtisch springen könne, ohne den Tisch zu berühren.

Der Trick: kein Trick. Er sprang fast aus dem Stand mit dem Kopf voran und rollte sich ab.

  1. Er wettete gegen einen bekannten Schwergewichtsboxer, dass der ihn nicht k.o. schlagen könne, auch wenn sie auf demselben Blatt Zeitungspapier stünden.

Der Trick: Titanic schob die Zeitungsseite unter einer Tür hindurch. Er stand auf einer Seite der Tür, der Boxer notgedrungen auf der anderen Seite.

  1. Er wettete, dass er eine Wassermelone bis auf das Dach eines sechsstöckigen Hauses werfen könne.

Der Trick: Zwar konnte Titanic Wassermelonen extrem weit und hoch werfen (auch so gewann er Wetten), aber sechs Stockwerke waren dann doch zu viel. Nachdem die Wetteinsätze bezahlt waren, betrat er samt Melone den Fahrstuhl des Nachbarhauses, fuhr in den achten Stock und ließ von dort die Melone aufs Dach nebenan krachen.

  1. Er wettete, dass die nächsten fünf Autos, die vorbeifahren würden, ungerade Zahlen auf den Nummernschildern hätten.

Der Trick: Er hatte fünf Freunde mit ihren Autos am Ende der Straße postiert.

 

Buchtipp:

»Titanic Thompson: The Man Who Bet on Everything«, Kevin Cook, 19,30 Euro

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Wer Lust auf mehr Golf hat, sollte meine wöchentliche Kolumne auf www.golfjournal.de besuchen. Den aktuellen Text gibt es hier.