Ich werde öfter gefragt: Wie geht das mit kreativer Arbeit? Oder mit dem Schreiben dieser vielen Bücher? Und wie geht das mit diesem Output, ohne dabei Stressflecken im Gesicht zu bekommen oder sich ein übles Übergewicht anzufuttern?
Denn ihr kennt mich, ich bin fleißig – pro Jahr schreibe ich vier bis fünf Bücher (Romane, Reiseführer, Sachbücher). Dazu kommen Artikel in Feinschmecker, Traveller’s World und P.M. und regelmäßige Kolumnen für Golf Journal. Und noch einiges mehr.
Und 2020 wird mein allerwichtigstes Jahr. Ich darf nur noch nichts verraten, obwohl es mich innerlich zerreißt, aber ihr erfahrt es spätestens Ende Oktober.
All das sage ich nicht, um für mich zu trommeln (okay, höchstens ein bisschen – schließlich sind wir hier im Internet), sondern nur, damit ihr mir glaubt.
Denn an all die Internet-Berater und »Life Coaches« da draußen, die euch erklären wollen, wie das geht mit dem Bücherschreiben und der Kreativität und dem Glück:
Guter Mann, guter Satz.
Also, hier kommt es: Ich glaube, ich habe das Geheimnis nahezu unerschöpflicher Kreativität gefunden. Es funktioniert bei mir, es hat bei viel größeren Geistern als mir funktioniert, und es ist sogar wissenschaftlich untermauert.
Das Geheimnis lautet:
Geht spazieren.
Abendliche Inspiration an der Adria.
Beethoven, Darwin, Freud, Dickens, Goethe, Schiller, Tschaikowski, Kant, Flaubert, Hugo, Le Corbusier, Rilke, Theodor Storm und Siegfried Lenz, aber auch Steve Jobs, Mark Zuckerberg und Twitter-Gründer Jack Dorsey – sie alle unternahmen oder unternehmen täglich lange Spaziergänge. Friedrich Nietzsche, der mit Leidenschaft das Engadin durchschritt, meinte gar, man müsse jedem Gedanken misstrauen, der nicht »erwandert« sei. Rilke hat einen nach ihm benannten Wanderweg, den »Sentiero Rilke« bei Duino, gleich bei mir um die Ecke.
Und Leser Wolfgang Scheuer wies mich gerade darauf hin, dass der Schriftsteller Johann Gottfried Seume auch in diese Reihung gehöre, legte er doch 1801/1802 für seine Reise nach Syrakus die 7000 Kilometer weitgehend zu Fuß zurück. Sein Buch benannte er schlüssigerweise »Spaziergang nach Syrakus«.
In beinahe jeder Künstlerbiografie ist von ausgedehnten Spaziergängen die Rede – mit der Ausnahme Marcel Prousts, der sein »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« praktisch aus dem Bett schrieb. Er litt allerdings an Asthma, Neurasthenie und schweren Depressionen und starb mit gerade 51 Jahren.
Schlaumeier werden jetzt einwenden, dass man bis vor wenigen Jahrzehnten ja oft keine andere Wahl hatte, als zu Fuß zu gehen; Autos waren noch nicht erfunden oder nur wenigen reichen Exzentrikern vorbehalten. Aber die kreativen Köpfe gingen einfach so spazieren – und nicht etwa, um sich im nächsten Ort die aktuelle Tageszeitung zu kaufen. Charles Dickens marschierte an manchen Tagen bis zu 50 Kilometer durch London und die Grafschaft Kent. Charles Darwin unternahm pro Tag gleich drei ausgedehnte Spaziergänge auf einem extra angelegten Pfad über sein Anwesen: einen gleich nach dem Aufstehen, einen zur Mittagszeit und einen am späten Nachmittag. Je schwieriger das Problem war, an dem er knobelte, desto mehr Runden legte er zurück.
Und ein Beispiel aus der Jetztzeit: Jack Dorsey unternimmt mit jedem neuen Angestellten in der ersten Woche einen ausgedehnten Spaziergang durch San Francisco, um ihn mit den Prinzipien seiner Firma vertraut zu machen.
Die moderne Hirnforschung bestätigt die Segnungen des Flanierens: Für eine Studie der Uni Stanford aus dem Jahr 2014 mussten 176 Studenten kreative Denksportaufgaben lösen. Dabei mussten die Probanden entweder still sitzen oder auf einem Laufband oder in der Natur spazieren gehen. Es kam heraus, dass die Spaziergänger um 60 Prozent besser abschnitten als diejenigen, die hocken blieben. Die Forscher vermuten, dass die bessere Blutzirkulation der moderaten Bewegung auch im Hirn die Kreativität stimuliert.
Kilometer eins meiner täglichen Runde.
Natürlich habe ich Schwein. Täglich am Meer entlang gehen zu können ist ja schon von allein inspirierend. Aber auch in München laufe ich gern umher. Spazierengehen in der Stadt ist etwas ganz Besonderes. Während sich Radfahrer auf den engen Wegen Ritterfestspiele liefern, während der sogenannte Individualverkehr sich in hustenden Stößen vorwärts schiebt, während jeder Mensch sein Leben den Stundenplänen und Abfahrtszeiten anpasst, genießen wir eine erhabene Solitude. Unser Rhythmus ist derjenige unserer eigenen Schritte. Wir verweigern uns dem großen Geschiebe.
Spazieren als entspannter, eleganter Akt der Rebellion – genau das ist es!
Die spaziergängerfreundlichste Stadt der Welt ist übrigens Venedig. Keine Autos, keine Fahrräder – nur der Widerhall der eigenen Schritte in den engen calli. Kein Wunder, dass sich mein literarisches Dasein weitgehend um diese Stadt dreht (mehr hier).
»Flanieren«: Ich mag das Wort. Hier flaniere ich über den Markusplatz. (Foto meiner Tochter, die mich begleitete.)
Spazierengehen hat sich in Langzeitstudien auch gegen Depressionen bewährt – sogar besser als jedes Medikament. »Wenn Sie regelmäßig spazieren gehen, werden Sie besser denken, bekommen mehr Dinge erledigt, können tiefere Beziehungen aufbauen und verlängern ihr Leben«, fasst es der Hirnforscher Andrew Tate zusammen.
Saisonende? Unsinn: Saisonbeginn!
Hier ein Beispiel aus Italien: Das öffentliche Nahverkehrssystem ist nicht das beste. Es ist auch nicht so schlecht, wie es oft gemacht wird, aber es ist eben doch weit entfernt von der Perfektion anderer europäischer Länder. Daher gehen Italiener gern zu Fuß. Morgens schlendern sie in ihre Bar, tagsüber spazieren sie, gern auch untergehakt mit Freunden, ein wenig durch die Gegend, abends geht es mit der Familie durch das Städtchen oder an der Ufermeile entlang. Auch Geschäfte werden gern spazierend gemacht, mit oder ohne telefonino am Ohr, auch nach einem Business-Mittagessen geht es noch ein wenig hin und her durch den Ort, ohne bestimmtes Ziel.
In diesem Beitrag (übrigens der meistgelesene von allen) erklärte ich ja bereits, warum Italiener glücklicher, messbar gesünder und langlebiger sind als wir. Möglich, dass auch das Spazierengehen etwas damit zu tun hat. Die ältesten Menschen Europas leben auf Sardinien und insbesondere in den extrem hügeligen Bergdörfern, wo maßvolle Bewegung bis ins hohe Alter schlicht notwendig ist – und sei es nur, um seinen morgendlichen caffè in der Dorfbar zu genießen.
Flanieren in Bad Kleinkirchheim: Warum bleiben Menschen eigentlich immer vor Kühen stehen und machen »Muh«?
Möglich auch, dass Italiener damit schon lange richtig machen, was heute schwer im Trend ist. Und wie jeder Trend gibt es einen schmissigen Namen dafür: Urban Walking. Viele große Städte bieten gut ausgeschilderte Wanderstrecken von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit an. Held der neuen Fußbewegung ist der Schriftsteller Iain Sinclair, der schon mehrere tausend Kilometer durch London gewandert ist und darüber ein Buch geschrieben und einen Dokumentarfilm gedreht hat. Auch deutsche Reiseführer-Verlage bieten inzwischen spezielle Bücher fürs Tourengehen an. (Eines davon, »Florenz zu Fuß« entdecken, habe ich geschrieben).
Überhaupt ist Großbritannien der Trendsetter des Urban Walking. Im Internet könnt ihr euch unter walkit.com für mehr als vierzig Städte in England, Schottland und Wales die perfekte Route ausrechnen lassen, angepasst auf Länge der Strecke, Dauer und Sehenswürdigkeiten. Ein Muss für alle urbanen Spaziergänger ist der London Circle Walk, der am Tower beginnt und endet und durch Chelsea und den Hyde Park führt, vorbei an vielen bedeutenden und weniger bedeutenden Bauwerken, aber genau das macht ja den Reiz des Urban Walking aus.
Klar, dass auch Kalorienverbrauch und CO2-Ersparnis angegeben werden. In Deutschland ist das Thema ebenfalls angekommen: Bei alternativeberlin.com werden beispielsweise Touren durch die Hauptstadt mit verschiedenen Schwerpunkten (Kultur, Kneipen, Nachtleben) angeboten.
Auch die Fitnessindustrie hat das Urban Walking entdeckt und propagiert es als besten und preiswertesten Weg, in Form zu bleiben, auch in der eigenen Stadt. Pech für die Fitnessindustrie: Man kann mit Spaziergängern blöderweise weniger Kohle machen als mit Anhängern nahezu aller anderen Sportarten.
So sehe ich aus, nachdem mich mal wieder jemand zum Joggen überredet hat. Dabei wusste doch schon Sting: »A gentleman will walk but never run«.
Sogar eine Firmenführungs-Methode hat sich daraus entwickelt: »Management by Walking Around« – »Management durch Umherschlendern«. Ein stets präsenter, entspannt durch die Flure flanierender Boss scheint auf den Arbeitsausstoß positiv zu wirken. Sie wirken engagiert, nahbar, im selben Schützengraben.
Aber was interessieren uns Manager? Eine Stunde pro Tag reicht aus. Geht durch euer Viertel, umrundet den Baggersee, marschiert die hübschen Vorstadtgärten ab.
Und so sieht es bei mir aus: Jeden Morgen schnalle ich mir meinen Schrittzähler um das »nicht-dominante« Handgelenk, denn wer ihn am dominanten Arm benutzt, bekommt schon beim Zähneputzen mit der elektrischen Zahnbürste ein paar hundert Schritte auf die Uhr – und das wäre ja wirklich geschummelt.
18.000 Schritte pro Tag sind mein Ziel, was etwa 15 Kilometern entspricht. Das klingt erst einmal viel, aber man legt schon von allein vier bis fünf Kilometer zurück. Wenn ihr noch ein paar Tricks anwendet (etwa beim Einkaufen das Auto absichtlich am entferntesten Parkplatz parken etc.), kommt ihr auf sechs bis sieben Kilometer.
Bleiben etwa acht bis neun Kilometer, die ergangen werden müssen. Das sind anderthalb Stunden pro Tag. Das ist doch ganz gut machbar.
Habt einen kleinen Notizblock dabei. Haltet eure Gedanken fest. Und lasst das Handy daheim.
Niemand ist glücklicher über meine täglichen Schritte als unsere Luna.
Eine aktuelle Ergänzung zum Thema kommt von Leser Wolfgang Scheuer: Im Spiegel vom 28. Juni 2020 erklärt der irische Hirnforscher Shane O’Mara, warum uns das Spazierengehen so gut tut. Hier ist der Link, allerdings versteckt sich das Interview hinter einer Bezahlschranke – aber er sagt auch nichts anderes als ich. O’Mara hält mindestens 7500 Schritte pro Tag für sinnvoll.
Wie immer: Tipps und Anregungen – nur her damit!
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