Flüssige Druckerschwärze, diffuse Ideen und ein aufregender antiker Fund: Mediterrane Wochenschau XLIX

Hier kommt der einzige Newsletter, der die nächsten zehn Abende im Restaurant verbringen und die Karte rauf und runter bestellen wird!

Denn auch wenn die offizielle Bestätigung erst heute Nachmittag kommt (Aktualisierungen hier) – fast ganz Italien wird ab Montag auf Gelb gesetzt, die niedrigste Corona-Warnstufe. Endlich öffnen die Bars und Restaurants, und wir sind alle sehr glücklich. Die Ausgangssperre ab 22 Uhr wird zwar bis zum 15. Juni verlängert, aber damit können wir leben.

Sonntag, 18. April

Die Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung fragte für die Wochenendausgabe die Kollegen Veit Heinichen, Petra Reski und mich (gute Gesellschaft, danke dafür!) nach »meinem Italien« – meinem Lieblingsort, meiner Quintessenz. Hier kommt mein Text:

Mein Italien ist Strandkabine 64a, die jedes Jahr von meiner italienischen Schwiegermutter für die gesamte Saison gebucht wird. Die Kabine befindet sich in Grado, einer Insel zwischen Venedig und Triest mit sieben Kilometer Sandstrand. Aber mein Wirkungsradius beträgt höchstens hundert Meter – Strandkabine, Liegestuhl, Beachbar, Meer, Liegestuhl.

Meine Schwiegermutter bucht Kabine 64a seit vier Jahrzehnten, es darf keine andere Nummer sein, und drumherum reisen zu Beginn des Sommers ähnlich treue Stammkunden aus Mailand, Verona und Turin an, um sich zu einem eingeschworenen Teilzeit-Clan zu verbünden. Aus dem Gebiet rund um Strandkabine 64a wird ein eigener Staat; Eindringlinge werden misstrauisch beäugt.

Eine Ecke in der Strandkabine gehört mir, und jedes Jahr befinden sich dort zwei Stapel: Druckwerke, die ich lesen will (Ulysses, Hamlet, Don Quixote) und Druckwerke, die ich tatsächlich lese, vor allem die Settimana Enigmistica, die wöchentliche Rätselzeitung, ohne die ein Leben am italienischen Strand gar nicht möglich wäre. 

In der Hitze wird die Druckerschwärze beinahe flüssig, und ihr Duft vermischt sich mit dem salzigen Geruch des Meeres und dem Kokosaroma des Bräunungsbeschleunigers aller Umliegenden zu einer einzigartigen Mixtur. Ich kann es kaum erwarten!

Blick von Kabine 64a, Nebensaison: Wir sind soweit!

Montag, 19. April

Es gibt nicht viele Dinge, die ich im Alltag gut kann und die allgemein als männlich bezeichnet werden. Ich bin kein begabter Handwerker, ich habe keine Ahnung von dem Innenleben meines Autos, und beim Holzhacken versuche ich mit Kraft, was viel besser mit Technik und Eleganz gehen würde. Aber auf eines war ich immer stolz: Ich war ein sehr guter Einparker und konnte verlässlich die engsten Lücken ansteuern, auch noch zu einer Zeit ohne rumpiepsende Sensoren oder gar Kameras.

Diese Fähigkeit musste ich mir in Braunschweig aneignen. Da unsere Stammkneipe direkt in einer engen Wohnstraße lag und Parkplätze immer ein Problem waren, musstest du erstens jede Lücke nutzen – und dir zweitens die hämischen Kommentare deiner Kumpels anhören, die draußen vor ihrem Jever-Pils saßen und wie die Hyänen auf Fehler lauerten. Und als Schüler/Student konnte man sich nur Autos leisten, in denen man die fiesen Sprüche durch das dünne Blech und die zugigen Fenster tatsächlich hörte.

Das war mein erstes Auto, ein Autobianchi A112 (leider nicht das Original, früher hat man ja viel weniger fotografiert). Ich bin also tatsächlich italienisch in meine Fahrzeuglenkerkarriere gestartet.

Es war, wie Ben Hogan, einst der beste Golfer der Welt, einmal sagte: »Trainiere, als würde dir jemand eine Pistole an die Schläfe halten.« Und so bin ich tatsächlich gut geworden.

Doch nach zwanzig Jahren in einem 8000-Einwohner-Örtchen mit gigantischem Parkplatzangebot (jedenfalls in der Nebensaison) und eigener Garage – und der seltenen Notwendigkeit, das Auto überhaupt benutzen zu müssen – bin ich mittlerweile völlig überfordert. Heute morgen musste ich nach Udine. Und, Grundgütiger, es war eine peinliche Kurbelei, bis ich halbwegs eingeparkt hatte. Ich hoffe, niemand hat für YouTube mitgefilmt. Grundgütiger – ein Wort, das wir öfter benutzen sollten.

Dienstag, 20. April

Heute war ich im Radio bei ORF Kärnten zu Gast und durfte über das »Italien-Prinzip« plaudern. Das Interview wird bald auch in Wien und in anderen Landesradios ausgestrahlt. Hier geht es zur Mediathek, falls jemand meine samtene Frank-Sinatra-Stimme hören will.

Nächste Woche werde ich das Interview transkribieren und hier veröffentlichen. Transkribieren – ein Wort, das wir auch öfter benutzen sollten.

Mittwoch, 21. April

Kennt hier jemand noch die Toskana-Fraktion? Das war ein politischer Kampfbegriff für meist linke deutsche Politiker und Kulturschaffende, die es sich im Urlaub oder im Ruhestand in ihren Rusticos im Chianti gutgehen ließen. Der Berliner Verleger Klaus Wagenbach wohnte in Montefollonico, und auf dem Türschild stand: »Idee confuse – Scritti vari – Ingresso libero« (Konfuse Ideen, diverse Texte, Eintritt frei). Das Schild lasse ich mir sofort für mein Arbeitszimmer anfertigen!

Ich wurde in meiner (teilweise linken und hochpolitischen) Verwandtschaft auch immer gern als Champagner-Sozialist bespöttelt, weil ich ja selbst so eine Art Toskana-Fraktion verkörpere, wenn auch nicht in der Toskana. Inzwischen weiß ich, dass ich links und rechts zugleich bin. Ich bin rechts, weil ich finde, dass Schriftsteller, die bessere Bücher schreiben und mehr Bücher verkaufen als andere Schriftsteller, auch mehr verdienen sollten. Und ich bin links, weil ich finde, es sollte zumindest allen die Chance zugebilligt werden, genau das zu tun.

Donnerstag, 22. April

Leute, es ist so wunderbar – und das habe ich alles euch zu verdanken. Platz 7 auf der Bild-Bestsellerliste, und das ganz ohne TV-Prominenz. Irre.

Denn in Verlagen gilt es als ausgemacht, dass gerade der Sachbuchmarkt nur mit Fernsehpersönlichkeiten zu knacken ist, die in Talkshows rumlungern oder gar ihre eigene Sendung haben. Einerseits haben die Verlage recht, wenn ihr euch die Liste anschaut. Andererseits bin ich der Beweis des Gegenteils.

Seid dabei, den doofen Verlagen weiterhin das Gegenteil zu beweisen! Hier geht’s zum Buch.

Freitag, 23. April

Grado ist ganz aufgeregt, denn zwei Dinge haben sich ereignet: Erstens war Grado Thema bei CNN, was natürlich eine große Sache ist. Denn CNN stellte die »Mini-Venedigs« rund ums Mittelmeer vor, und Grado ist auch dabei. (Hier ist der Link.) Und wieder einmal wurde die Geschichte erwähnt, dass Grado die »Mutter Venedigs« sei, eine Geschichte, die ich auch immer mal wieder zum Besten gebe. Als die Hunnen kamen, sind die Festlandsbewohner auf die Inseln geflohen; der Bischof von Aquileia regierte fortan von Grado.

Aber die Sache mit der »Mutter Venedigs« ist etwas umstritten. Denn Venedig wurde wohl eher von Festlandsbewohnern rund um Jesolo und Cavallino besiedelt als von den (Neu-)Insulanern aus Grado. Andererseits gibt es durchaus Hinweise, dass Grado zumindest eine kleine Rolle gespielt hat; so ähneln sich der venezianische und gradesische Dialekt auf verblüffende Weise, und eine der einflussreichsten venezianischen Familien hieß Gradenigo und stammte nachweislich aus Grado. Die Familie stellte drei Dogen, und Ludovica Gradenigo war mit Marino Faliero verheiratet, dem einzigen Dogen, der einen Kopf kürzer gemacht wurde, weil er eine Erbmonarchie einführen wollte. (Dogen wurden von den Patriziern gewählt.) Falieros Porträt im Dogenpalast ist deswegen mit schwarzem Stoff verhängt.

Marino Faliero steht in der Bildmitte. Vorn rechts wartet der freundliche Herr mit der Axt. Gemälde von Francesco Hayez.

Zweitens wurde, wie passend, am Strand von Grado ein Stück Holz gefunden, das offenbar zu einem antiken Schiff gehört. Noch fehlt die Bestätigung, aber die Experten sind vor Ort. Eine spannende Sache – ich halte euch auf dem Laufenden. (Wäre sehr peinlich, wenn es am Ende einfach nur ein angespültes Billy-Regal wäre.)

Update: Hier sind die ersten Fotos.

Das Holz ist acht Meter lang, dreißig Zentimeter breit und acht Zentimeter dick. Fotos: GIT SpA

Das Fundstück sieht zugegebenermaßen nicht nach Billy-Regal aus. Angeblich deuten der Schnitt und die Bearbeitung des Holzes auf eine Bauart irgendwann zwischen dem Römischen Reich und dem Mittelalter hin. Ich bleibe dran!

Zur vorigen Wochenschau geht es hier entlang.

Zurück zur Startseite? Bitteschön!

Alles über »Das Italien-Prinzip: So geht Glück!« steht hier.

Die nächste Mediterrane Wochenschau erscheint pünktlich am kommenden Freitag.

Wer diesen Newsletter als E-Mail bekommen hat, kann ihn gern an italophile Freunde weiterleiten.

Ich wünsche euch allen ein sonniges, entspanntes Wochenende!

Ein Kommentar

Kommentare sind geschlossen.