Sattel. Fest.

Italiener lieben den Rennradsport. Wie passt das bloß zum Dolce Vita?

Beginnen wir die Spurensuche nicht im Sattel, sondern am Tresen, beim Frühstück an einem beliebigen Morgen in einem der vielen kleinen Cafés des Landes. Die Kaffeemaschinen fauchen und pressen das heiße Wasser mit viel Druck durch die mit Kaffeepulver gefüllten Siebträger, die Mikrowellen klingeln und entlassen dampfende brioches, Croissants mit Marmeladenfüllung. Und das frühstückende Italien krümelt bevorzugt auf die Seiten der Gazzetta dello Sport. Sie liegt kostenlos in jedem Café aus und wird von einem zum anderen gereicht. Keine Zeitung prägt Italien stärker, dies- und jenseits des Sports.

Bevor wir also über den Giro reden, müssen wir uns mit dieser Zeitschrift beschäftigen. Die Gazzetta wurde am 3. April 1896 gegründet und entstand aus der Fusion der Fahrradzeitungen La Tripletta und Il Ciclista, was uns dem eigentlichen Thema schon näher bringt. Die ersten Jahre wurden die Nachrichten auf lindgrünem Papier gedruckt, erst im Jahr 1900 entschied man sich fürs unverwechselbare Rosa. Die Blattmacher, allesamt Radfans, gründeten diverse Rundfahrten, etwa die Lombardei-Rundfahrt (1905), Mailand–San Remo (1907) und den Giro d’Italia (1909). Das Rosa Trikot war als Marketing-Gag naheliegend, aber es vergingen 22 Jahre, bis jemand diese Idee hatte.

Als die Gazzetta ihr 100-jähriges Jubiläum feierte, wurde der Giro in Athen gestartet, zur Erinnerung an das gemeinsame Gründungsjahr mit den modernen Olympischen Spielen. Zum Geburtstag gratulierte auch Papst Johannes Paul II., der »den volkstümlichen Charakter und das hohe literarische und sittliche Niveau« hervorhob; die italienische Post brachte eine Sondermarke heraus. Im Ausland lebende Italiener lesen allem die Gazzetta, häufiger als jede andere Zeitung: Das zeigt die integrative Kraft des Blattes. Die tägliche Auflage liegt bei mehr als 600.000 Exemplaren, am Wochenende werden mehr als 800.000 Zeitungen abgesetzt, bei Großereignissen geht es über die Millionenschwelle.

Kommen wir nun zum Giro d’Italia, denn die Gazzetta, der Giro und das italienische Volk sind untrennbar miteinander verzahnt. Wobei sich die Frage stellt: Warum hat das Radfahren südlich der Alpen bloß einen so hohen Stellenwert – die schweißtreibende Fortbewegung passt doch sonst gar nicht zum vermeintlich lässigen, von Siestas durchzogenen mediterranen Dasein?

Ein Grund liegt in der Nachkriegsgeschichte. So wie die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg dank Sepp Herberger, Fritz Walter und Helmut Rahn 1954 im Wankdorfstadion ihr »Wunder von Bern« feiern durften, gab es in Italien Fausto Coppi und Gino Bartali, die mit ihren Siegen bei den großen Rundfahrten der in Trümmern liegenden Nation neues Selbstbewusstsein einimpften. Coppi, Spitzname »Il Campionissimo«, gewann fünf Mal den Giro d’Italia und zwei Mal die Tour de France; 1952 siegte er in Frankreich mit so gewaltigem Vorsprung, dass die Organisatoren ihn fürs nächste Jahr gar nicht mehr einluden, weil sie befürchteten, seine Dominanz würde das öffentliche Interesse an der Rundfahrt ersticken.

Typisch Franzosen, kommentieren rennsportbegeisterte Italiener diesen Umstand, denn von der Konkurrenz zwischen diesen beiden Ländern wird noch die Rede sein. Eine andere Konkurrenz, jene zwischen Coppi und Bartali, sorgte für das Goldene Zeitalter des italienischen Radsports. Die Nation teilte sich in »Bartalisten« und »Coppisten« auf, war aber in ihrer Liebe zu den großen Rennen geeint.

Ein oft übersehener zweiter Grund für die Radnation Italien: die Liebe zur Ästhetik, verbunden mit erstklassiger Handwerkskunst. Masi, Cinelli, Colnago, Pinarello, Chesini, Rossin, De Rosa (bei deren Designs schon einmal Pininfarina mithalf), Olmo, Gios – bei diesen Namen gehen Rennradenthusiasten in die Knie. Exzellent ausgebildete Spezialisten, die per Hand wertvolle Einzelstücke fertigen: Auch das ist Italien, und in den konsequenter durchindustrialisierten Ländern wie Deutschland oder England wären solche Hinterhof-Betriebe schnell gegen die Wand gefahren oder von Großfabriken geschluckt worden. Tatsächlich ist es ein großes italienisches Problem, dass seine Wirtschaftskraft auf so vielen Kleinunternehmen ruht, was die weltweite Vermarktung der Produkte schwierig macht, ob beim Olivenöl oder beim Wein, ob beim Boots- oder beim Rennradbau.

Doch das führt uns zu weit weg, beschäftigen wir uns lieber noch einmal mit Fausto Coppi, denn an ihm kann man, wie am Giro selbst, die Geschichte einer Nation ablesen. 1953 wurde bekannt, dass Coppi seine Ehefrau verlassen hatte, um mit der ebenfalls noch verheirateten Giulia Occhini zusammenzuleben, Spitzname »Weiße Dame«, weil sie auf den ersten Paparazzi-Fotos in einem schneeweißen Mantel abgelichtet wurde. Im tiefkatholischen Italien der frühen Fünfzigerjahre war das ein Skandal ungeheuren Ausmaßes.

Selbst der Papst schaltete sich ein und forderte beide auf, zu ihren Ehepartnern zurückzukehren. Die Justiz sperrte Giulia für einen Monat ins Gefängnis und stellte sie anschließend unter Hausarrest, während Coppi der Reisepass beschlagnahmt wurde.

Unter tausenderlei Schwierigkeiten heirateten beide 1954 in Mexiko (die Eheschließung wurde in Italien nie anerkannt), und ihr gemeinsames Kind Faustino brachte die »Weiße Dame« 1955 in Buenos Aires zur Welt, damit es den Nachnamen des Vaters annehmen konnte.

Der Liebe gegen jede Widerstände war kein Happy-End vergönnt: Coppi starb vier Jahre später mit erst 40 Jahren tragisch an einer unentdeckten Malaria-Infektion, und erst nach seinem Tod versöhnte sich die Nation mit ihm. Logisch, dass in der Fernsehverfilmung von 1995 über Coppis Leben die bezaubernde Ornella Muti den Part der »Weißen Dame« übernahm.

Nicht nur Coppi, sondern auch der gesamte Giro ist ein Spiegelbild der italienischen Kultur. Denn in den Vierziger- und Fünfzigerjahren war der Giro wichtiger als die Tour de France, so wie Italien das neue Lieblingsziel des Jet-Sets war. Amerikanische Filmstars kamen in Scharen nach Rom und schlenderten über die Via Veneto, die Regisseure verlegten ihre Filme dorthin und schenkten uns Ikonen wie »Ein Herz und eine Krone« mit Gregory Peck und Audrey Hepburn (und sorgten nebenbei dafür, dass nun alle Welt Vespa fahren wollte). Federico Fellini inszenierte mit Anita Ekbergs Badeszene im Trevi-Brunnen einen hübsch kalkulierten Aufreger, der aber auch zeigte, dass es im Land allmählich liberaler zuging. »La Dolce Vita« hieß der Film, und der Titel wurde zum geflügelten Wort für das luftig-leichte Leben zwischen Mailand und Messina. Italien entwickelte sich zum weltweiten Sehnsuchtsziel. Was es selbst heute noch ein wenig ist.

Doch nach und nach wurde die Tour de France wichtiger. Und auch die Strahlkraft Italiens ließ nach. Die cugini d’oltralpe, die Cousins jenseits der Alpen, zogen unaufhörlich davon, wirtschaftlich, kulturell und sportlich. Die Tour de France ist bis heute das wichtigste Radrennen der Welt, dem Giro bleibt nur der ehrenvolle, aber eben auch etwas undankbare Platz zwei, und es sieht nicht so aus, als würde sich das in den nächsten Jahren ändern.

Apropos abgeschlagen: Zwischen 1946 und 1951 gab es beim Giro d’Italia neben dem Rosa Trikot und den zahlreichen anderen Farben, etwa für den besten Berg- oder besten Jugendfahrer, auch das legendäre »Maglia Nera«, das »Schwarze Trikot« für den Letzten in der Gesamtwertung, das sogar mit einer kleinen Geldsumme dotiert war. 1948 etwa ging das Trikot an Aldo Bini, der den Giro trotz einer gebrochenen Hand zu Ende fuhr und in den Bergen oft schieben musste. Auch Giovanni Pinarello, der Begründer der bekannten Fahrradmarke, bekam einst das Schwarze Trikot verliehen, das in Italien sprichwörtlich für den letzten Platz in allen Sportveranstaltungen geworden ist.

Zur Giro-Legende gehören die Duelle zwischen Sante Carallo und Luigi Malabrocca um das Schwarze Trikot beim Giro 1949. Carallo war ein miserabler Fahrer, aber Malabrocca brauchte das Geld. Er versteckte sich in Bars, Scheunen und hinter Büschen und beschädigte absichtlich sein eigenes Rad; 1952 absolvierte er die 40 Kilometer zwischen Novara und Mailand in drei Stunden und 15 Minuten, was einem flotten Schnitt von 12 km/h entspricht. Die Organisatoren schafften das Trikot noch während der Rundfahrt ab.

Die kleinen und großen Anekdoten rund ums Rennen, die Verschwörungstheorien etwa um Marco Pantanis Tod und vor allem die bösen Franzosen mit ihrem vielen Geld – all das ist in den Bars und in der Gazzetta das ganze Jahr über ein riesiges Thema. Aber nur, bis der Giro losgeht. Denn dann sind alle Probleme vergessen, und ganz Italien steht am Straßenrand. Und wird wieder zu jener jubelnden, enthusiastischen Einheit, die es einst in den späten Vierziger- und Fünfzigerjahren war.

Giro d’Italia: Rekorde

– Meiste Gesamtsiege: Alfredo Binda, Fausto Coppi, Eddy Merckx (5)

– Meiste Etappensiege: Mario Cipollini (42)

– Meiste Etappensiege in einem Jahr: Alfredo Binda (12)

– Am häufigsten im Rosa Trikot: Eddie Merckx (77 Tage)

– Bester Deutscher im Rosa Trikot: Jens Heppner (10 Tage)

– Jüngster Gesamtsieger: Fausto Coppi (20 Jahre)

– Ältester Gesamtsieger: Fiorenzo Magni (34 Jahre)

– Größter Abstand zwischen Sieger und Zweitem: 1:57 Stunden (1914)

– Geringster Abstand zwischen Sieger und Zweitem: 11 Sekunden (1948)

– Häufigste Teilnahme: Wladimir Panizza (18 Giros seit 1967, davon 16 beendet)

– Ältester Teilnehmer: Giovanni Gerbi (47)

– Höchste Teilnehmerzahl: 298 (1928)

– Niedrigste Teilnehmerzahl: 56 (1912)

– Längste Etappe: 430 km (Lucca–Rom, 1914)

– Kürzeste Etappe (ohne Zeitfahren): 31 km (San Remo–San Romolo, 1987)

 

(Der Artikel erschien im Frühjahr 2016 in »Tour« anlässlich des 100. Giro d’Italia.)

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