Wo die Deutschen das Urlauben lernten

Im Fernsehen liefen die Quizsendungen »Hätten Sie’s gewusst?« und »Was bin ich?«, Edgar-Wallace-Filme sorgten für wohliges Gruseln, und die Blockbuster von Heinz Erhardt hießen damals noch Kassenschlager; seine genialen Wortspiel-Reime waren in aller Munde (»Er würgte eine Klapperschlang, bis ihre Klapper schlapper klang«).

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Heinz Erhardt. Deutscher konnte man nicht aussehen. Lustiger konnte man nicht sein.

Die Nachkriegszeit markierte den großen deutschen Aufbruch gen Süden, angetrieben vom Wirtschaftswunder und dem Wunsch, die schrecklichen Kriegsjahre dauerhaft zu verdrängen.

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Über die Großglockner-Hochalpenstraße der Sonne entgegen.

Der deutsche Massentourismus begann eindeutig an der Adria. Wohl jeder findet in der Familie ein Fotoalbum von Omi und Opi, die mit VW Käfer oder Opel Rekord die Alpen überquerten und stolz vor ihrem Hotel oder dem Campingplatz posierten. Beim gemütlichen Diaabend daheim wurde zu den Bildern aus dem fernen, exotischen Süden Käseigel gereicht – und vielleicht sogar eine mitgebrachte Flasche Prosecco geöffnet.

Ein paar Zahlen: Bereits 1954 fuhren fast zwei Millionen Deutsche nach Italien. Für 32 Prozent war 1955 Italien bei einer Umfrage das Traumziel, und im Jahr 1958, als nur ein Drittel aller Bundesbürger jemals eine Reise gemacht hatten, waren bereits zehn Prozent in Italien gewesen.

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Man müsste wieder mehr Postkarten verschicken.

Der wirtschaftliche Aufschwung vor Ort war enorm; unbedeutende Ansiedlungen wie Lignano, Bibione und Jesolo wuchsen innerhalb weniger Jahre zu mittelgroßen Städten mit abertausenden Hotelbetten.

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Nicht nur für bambini.

Ein adriatischer Sonderfall soll hierbei nicht unerwähnt bleiben: Die Insel Grado war schon seit dem späten 19. Jahrhundert ein beliebtes Urlaubsziel des Wiener Hochadels. Man verbrachte mehrere Monate seine Sommerfrische hier, zog mit allen Hausangestellten gen Süden und genoss die Zeit auf der damals noch nicht mit dem Festland verbundenen Fischerinsel. Einige der damals errichteten Villen dienen heute als stimmungsvolle Hotels.

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Als Hochhäuser der letzte Schrei waren.

Doch die Deutschen brachten nicht nur viele Erinnerungen und ordentliche Sonnenbrände mit zurück in die Heimat, sondern auch den Appetit auf bis dato sehr exotische Produkte wie Spaghetti, Scampi oder Pizza. Sie lernten, dass »Osteria« auf der dritten und nicht auf der zweiten Silbe betont wird.

Wie nachhaltig die Prägung bis heute ist, lässt sich jeden Tag im Supermarkt bewundern: Viele unserer Lieblingsprodukte haben den grün-weiß-roten Anstrich oder tragen italienische Namen – die berühmteste Beispielen dieses »Italian Sounding« sind die »Miracoli«-Nudeln mit dem »Pamesello«-Käse oder die »Ristorante«-Pizzen von Dr. Oetker.

Komm ein bisschen mit nach Italien
Komm ein bisschen mit nach Italien
Komm ein bisschen mit ans blaue Meer
Und wir tun als ob das Leben eine schöne Reise wär‘
Komm ein bisschen mit nach Italien
Komm ein bisschen mit, weil sich das lohnt
Denn am Tag scheint dort die Sonne
und am Abend scheint der Mond
– Caterina Valente, 1956

Lust auf einen Ohrwurm? Suchen Sie sich einen aus! »Volare«, »Marina«, »Zwei kleine Italiener«, »Quando, quando, quando«, »Capri-Fischer«, »Que serà, serà«, »Azzurro«. Und Ihr Lieblingsinterpret? Domenico Modugno, Milva, Alice, Adriano Celentano, Zucchero, Vico Torriani (jaja, ein Schweizer, ich weiß), Al Bano & Romina Power, Caterina Valente, Milva, Vasco Rossi, Jovanotti, Eros Ramazzotti? Von den 1950er-Jahren bis heute begleitet uns italienische Musik und lässt automatisch Fernweh aufkommen. Und dieses italienische Lebensgefühl hat sich in viele weitere Bereiche ausgebreitet.

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Jubel auf allen Plätzen!

Auch in Film und Fernsehen wurde Italien omnipräsent. Die Reihe »Don Camillo und Peppone« (1952) gehört zu den großen Nachkriegs-Erfolgen. In »Wir Wunderkinder«(1958) ist eine Stippvisite nach Verona zu finden, in »Der Untertan« (1951) wird Rom besucht. Die Komödie »Das kann doch unseren Willy nicht erschüttern« (1970) liefert eine Paraderolle für Heinz Erhardt, der als Willi Hirsekorn den Zwist mit den Nachbarn im adriatischen Urlaubsort Caorle fortsetzt – inklusive allerlei amouröser Techtelmechtel. Mit unseren ständig verfügbaren Bildern von Italien im Kopf, ist es heute kaum noch vorstellbar, wie absolut umwerfend das Land auf einen Deutschen vor fünfzig oder sechzig Jahren gewirkt haben musste. Was die Adria für die Deutsche war, wurde Rom für die ganze Welt, dank des herrlich kitschigen Liebesfilms »Ein Herz und eine Krone« mit Gregory Peck und Audrey Hepburn (1953). Halb Hollywood ließ sich nun in Italien nieder. Der Film sorgte nebenbei für Verkaufsrekorde eines neuartigen Motorrollers mit ganz kleinen Rädern und extravaganter Verkleidung, den der Hersteller Vespa getauft hatte.

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Amore & Motore: Sogar deutsche Autos werden gern mit italienischen Modellnamen getauft, weil das fortschrittlich und schnittig klingt: VW fährt mit Scirocco, Lupo und Bora vor, Opel schickt den Ascona, den Monza und aktuell den Corsa ins Rennen, und Porsche hält die weltweiten Namensrechte am Targa. Auf Deutsch heißt »targa« einfach »Schild«…

Erst in den 1970er-Jahren, mit häufigeren und günstigeren Flugverbindungen, wurden klassische Adria-Urlauber von Mallorca, Ibiza und Teneriffa angelockt, später dann von der Karibik und schließlich, mit dem Aufkommen der Billigflieger, Last-Minute-Angebote und Online-Buchungsportale, stand den Urlaubern die ganze Welt offen. Eine zweiwöchige Thailand-Reise konnte plötzlich billiger sein als ein gleichlanger Urlaub in Italien. Nicht zu vergessen, gab es auch Konkurrenz am eigenen Meer: Die Adriaküste Jugoslawiens punktete mit niedrigen Preisen und klarem Wasser. Die italienische Adria wurde längst als »Teutonengrill« geschmäht.

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Man muss entweder sehr viel oder sehr wenig von Architektur verstehen, um diese Bauten zu schätzen.

Die Adria war etwas unsexy geworden, weil sich die Italiener zu lange auf ihren Meriten ausgeruht hatten. Auch die Hotels waren in die Jahre gekommen – und sind es teilweise noch heute: In den 1960er- und 1970er-Jahren waren Hotels »zum Schlafen da«; die Investoren wollten möglichst viele Zimmer auf den zur Verfügung stehenden Quadratmetern unterbringen. (Deswegen übrigens gibt es in so manchen älteren italienischen Hotels und Apartment-Anlagen Außentreppen – das schafft Platz für ein paar Zimmer mehr im Inneren.)

Erst als die Buchungszahlen merklich zurückgingen, wachten die Verantwortlichen auf. Nun gibt es nahezu das ganze Jahr über Events, Konzerte, Lesungen und sonstige Veranstaltungen. Golfplätze wurden eröffnet, Yachthäfen erneuert. Auf die Sauberkeit der Strände wird peinlich genau geachtet.

Sicher: Die Magie von einst ist für immer vorbei, doch das betrifft aufgrund der bequemen Erreichbarkeit längst jeden Winkel der Erde. Ein Trost bleibt: Mag sich die Welt auch immer ähnlicher werden, mag die Globalisierung immer mehr Unterschiede fortspülen – Italien wird immer Italien bleiben. Und ein warmer Sommerabend mit einem dampfenden Teller Spaghetti vongole, einem Glas kühlen Weißweins, dem Zirpen der Grillen und dem Wellenschlag an der Ufermole wird nie seinen Charme verlieren.

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